Rezension

Brillanter Roman über die Conditio Humana in einer substanzlosen Welt

Deine kalten Hände - Han Kang

Deine kalten Hände
von Han Kang

Unter die Haut

Die Romane Han Kangs sind von großer literarischer Anziehungskraft. Sie sind – oberflächlich betrachtet – leichte Lektüre, doch in der Essenz schwer verdaulich, denn mit ihren seltsam anmutenden Geschichten, die ihr Penchant für das Groteske offenbaren, mutet die Autorin ihren Lesern schon Einiges zu. So handelt beispielsweise ihr erstes Werk, der internationale Bestseller Die Vegetarierin, von einer Hausfrau, deren Umstellung auf vegetarische Ernährung schließlich in den manischen Wunsch mündet, eine Pflanze zu sein. Das alles klingt bizarr, doch wie die Schriftstellerin das menschliche Drama um ihre sonderbare Protagonistin als Allegorie der Auflehnung konzipiert hat und vor allem mit welcher kraftvollen, poetischen Sprache sie es erzählt, ist einzigartig.

Gleiches gilt auch wieder für ihren neuesten Roman, Deine kalten Hände, der abermals die ganze Bandbreite von Han Kangs literarischem Können offenbart. Auch dieses Mal steht ein von seiner Umgebung als eher sonderlich wahrgenommener Mensch, in diesem Falle ein aufstrebender Künstler, im Fokus des Geschehens, der mittels seiner Skulpturen gegen die Bigotterie und den schönen – falschen – Schein der Menschen bis zur Besessenheit rebelliert. Diese großartige Erzählung nimmt uns mit auf eine Reise in das Innerste des Menschen, zu alledem, was hinter den alltäglichen Masken verborgen liegt. Eine Geschichte, die unter die Haut geht. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Verstörende Kunst

Durch Zufall stösst die Schriftstellerin H. auf die Werke des jungen Künstlers Jang Unhyong, die sie als verstörend wahrnimmt und die ihr jedes Mal Gänsehaut bescheren. Trotzdem kann sie ihren Blick nicht von den befremdlichen Skulpturen abwenden, die er mittels Gipsabdrücken von Menschen (echte Körperabformung) kreiert. Nach einer Theateraufführung, zu der er ein Requisit beisteuert, lernt sie ihn persönlich kennen. Obwohl er auf den ersten Blick ganz sympathisch und komplett in sich zu ruhen scheint, ist er ihr unheimlich. H. ist sich sicher, dass hinter dieser stillen Fassade ein dunkler seelischer Abgrund lauert. Genau aus diesem Grund lehnt sie auch dankend ab, als er sie bittet, für ihn als Modell zu fungieren.

Seelenabgrund

Nach einiger Zeit erhält H. einen beunruhigenden Anruf von Jang Unhyongs Schwester, die ihr mitteilt, dass ihr Bruder spurlos verschwunden ist. Geblieben sind nur seine Tagebuch-Aufzeichnungen, in denen auch H. erwähnt wird. Seine Schwester bittet sie, diese zu lesen und ihr Bescheid zu geben, wenn sie einen Hinweis auf seinen Verbleib findet. H. ist zunächst zögerlich, doch am Ende siegt ihre Neugier. Was sie liest, ist mehr als nur die Lebensgeschichte eines zutiefst verunsicherten und rastlosen Menschen, der Wahrhaftigkeit nur in seiner Kunst zu finden glaubt. Es sind Einblicke in die zerbrochene Seele eines Mannes, der aus seinem ungeliebten, heuchlerischen Umfeld ausbricht und mit seinen Skulpturen der Welt den Spiegel vorhalten will.

Mehr Schein als Sein

Schon im Kindesalter lernt Jang Unhyong, dass niemand so ist, wie er scheint: Nicht seine äußerst beliebte Mutter, die ständig lächelt, doch hart und unnachgiebig zu ihren Kindern ist, mit denen sie nicht das Geringste anfangen kann. Auch nicht sein Vater, der von seinen Studenten verehrt wird, aber für seine Kinder nur Schweigen und für seine Frau nur Verachtung übrig hat. Und auch nicht sein Onkel, Trinker und schwarzes Schaf der Familie, der seine Kriegsverletzung, eine entstellte Hand, und seine Empfindsamkeit so akribisch verbarg, dass es niemandem auffiel – außer dem kleinen Jang.

Blick ins Innerste

Fortan versucht Jang, mittels seiner Kunst und seinen lebensechten Gipsabdrücken hinter die Masken der Menschen zu blicken und das zur Schau zu stellen, was sie verbergen. Als er der stark übergewichtigen Studentin L. begegnet, die ihren Körper ablehnt, fühlt er sich auf merkwürdige Weise mit ihr verbunden. Ihre Hände ziehen ihn magisch an, und sie erlaubt ihm, Abdrücke davon zu nehmen. Nach und nach nähern sich die beiden Außenseiter einander an, und L. glaubt, in Jang einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Aber seine künstlerische Manie und ihr permanentes Bodyshaming sind keine wirkliche Basis für eine gemeinsame Zukunft.

Als er die zierliche Innenarchitektin E. kennenlernt, wittert er, wie üblich, auch bei ihr ein Geheimnis, das sie mit aller Macht zu verbergen versucht. Aber die selbstbewusste E. ist keines seiner Versuchskaninchen. Sie steht ihm zwar als Modell zur Verfügung und kommt ihm auch näher als ihr eigentlich lieb ist, aber eine Beziehung mit ihm strebt sie zunächst nicht an. Doch nach und nach fasst sie zu ihm Vertrauen und lässt sich auf ihn ein. Aber auch dieses Mal mündet seine anfängliche Zuneigung in eine Besessenheit, die alles zu zerstören droht…

Brillanter Roman über die Conditio Humana in einer substanzlosen Welt

Mit Deine kalten Hände ist Han Kang ein weiteres literarisches Glanzstück gelungen. Einfühlsam, aber ohne jegliches Pathos, schreibt sie über die Befindlichkeit eines zerrissenen Künstlers in einer Welt voller leerer Hüllen, die jeglicher Substanz entbehrt. Die von ihm dargestellten menschlichen Skulpturen mit ihren exponierten Hohlräumen spiegeln deren seelische Verödung und Einsamkeit wider. Vor diesem Hintergrund sind Han Kangs Romane immer auch Zustandsbeschreibungen der Conditio Humana in einer Welt, in der das Oberflächliche vorherrscht. Jangs Kunst ist seine Art der Auflehnung gegen diesen Zustand. Es ist seine Art zu zeigen, was unter der Haut bzw. hinter der Alltagsmaske steckt. Und es ist ebenso die Demonstration seines manischen Wunsches, die Dominanz des Scheins zu brechen und das Sein zum Vorschein zu bringen.

Dieser düsteren Welt- und Menschenanschauung setzt Han Kang jedoch das größte aller Gefühle entgegen: Jangs aufkeimende Liebe zu E. erfüllt ihn und reißt ihn zum ersten Mal aus seinem künstlerischen Mikrokosmos. Die Tatsache, dass sie sich ihm – nach ihren Regeln – öffnet und ihn hinter ihre Hülle schauen lässt, kommt fast einer Versöhnung mit seinem negativen Menschenbild gleich. Als er realisiert, dass es nun an ihm ist, auch seine Maske abzustreifen, verfällt er in seine übliche Manie. Doch irgendwann bröckelt auch der größte Selbstschutz und enthüllt das, was ihn als Menschen ausmacht.

Mein Fazit: Han Kang präsentiert mit ihrem neuen Roman ein weiteres tiefgehendes Leseerlebnis auf höchstem Niveau. Sehr empfehlenswert!