Rezension

Brauchen Bücher immer eine Absicht?

Eine Art Familie -

Eine Art Familie
von Jo Lendle

Bewertet mit 3 Sternen

Wenn dem so ist, dann habe ich sie in diesem Buch wohl nicht eindeutig gefunden. Oder aber es ist, wie die NZZ behauptet, "eine Geschichte, die mehr als nur eine Geschichte erzählt". Ob dies gelungen ist, da mag jeder selbst urteilen. Mir allerdings fehlte in jedem Leseabschnitt ein Aspekt des Geschehens, dessen Absenz im nächsten zwar ausgefüllt, sogleich aber neue Lücken gerissen hat.
Jo Lendle erzählt die Geschichte seines Großonkels Ludwig, der zur Jahrhundertwende geboren, die Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs durchlebte, die junge DDR kennenlernte, seinen Lebensabend aber in der BRD beschloß. Umkreist wird diese Vita von dessen, nur wenige Jahre jüngeren, früh verwaistem Patenkind Alma und der Zugehfrau Paula Gerner.
Ludwig widmet sein Leben der Wissenschaft und forscht auf dem Gebiet des Schlafes und der Narkose, welches sich in Kriegszeiten auch auf Giftgase erweitert. Alma verliebt sich in Ludwig, der diese Liebe aber nicht erwidern kann, da er im eigenen Geschlecht die größere Leidenschaft entdeckt. Almas Jugend in den Goldenen Zwanzigern führen sie auch nur über lose Männerbekanntschaften in die Einsamkeit an Ludwigs Seite und so begleiten sie sich ein Leben lang.
Ludwigs Tagebuchaufzeichnungen leiten episodenhaft durch die Geschichte, in der wir viele bekannte Namen aus der Forschung begegnen dürfen und auch von seinem gespaltenen Verhältnis zu seinem Bruder Wilhlem und den immer tieferen Bruch zu seiner Mutter erfahren.
Wilhelm ist es, der eine Familie gründet und Kinder bekommt. Ludwigs Neffe führt dann die Geschichte auch weiter, entpuppt sich dieser doch als Jo Lendles Vater, obwohl der Autor diese Unmittelbarkeit durch die hartnäckige Bezeichnung als "der Neffe" auf Abstand zu halten versucht. Erst mit seiner eigenen Geburt und der kurzen Zeitspanne des Zusammenseins mit seinem Großonkel, wird Tacheles gesprochen, da ist die Geschichte aber auch schon zu Ende und man blickt verwundert zurück.

Verwundert, weil die Sprache Jo Lendles doch eine sehr feinsinnige, umschreibende, niemals ins Unflätige abfallende, Sprache ist, der man gern zuhört. Sie hat auch viel zu erzählen. Aber bei genauerer Betrachtung ist es ein Flickenteppich der Geschichte, die uns hier präsentiert wird. Es ist ein Teil der eigenen Familiengeschichte, ein Teil seiner Trabanten und ein Teil eines Jahrhunderts, der nicht nur Lendles Familie sondern allen und allem Umbrüche und Neuorientierung abverlangt hat.

Mir fehlte die Konzentration auf Jemanden oder Etwas. Ludwig könnte der Mittelpunkt sein, doch dazu fehlte Jo Lendle der Mut zum Auserzählen, zum Füllen der Lücken, die die wenigen Hinweise, die er in Ludwigs Tagebüchern fand, mit Fiktion ein wenig hätten ausschmücken können. Stattdessen flüchtet er sich in den Nebenfiguren, rast durchs Geschehen, schneidet die Schlaf- und Narkoseforschungen an und philosophiert ein wenig über den Schlaf. Der Text ist gespickt mit vielen interessanten Sidesteps, die neugierig machen, aber leider auch ablenken. So schweiften meine Gedanken oft ab, das Buch war mir dabei ein ruhiger, nicht ins Wort fallender Begleiter.