Rezension

bereichernd und tiefgründig

Mrs. Dalloway -

Mrs. Dalloway
von Virginia Woolf

Bewertet mit 5 Sternen

Der Roman spielt an einem einzigen Tag im Juni des Jahres 1923 in London und erinnert damit an James Joyce Roman Ulysses, ebenfalls an einem Tag spielend, den ich vor Jahren versucht habe zu lesen, aber abgebrochen habe. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass es Virginia Woolf als Verlegerin zusammen mit ihrem Ehemann abgelehnt hat, James Joyce Ulysses herauszubringen.

Aber zurück zu Mrs. Dalloway. Sie bereitet eine Abendgesellschaft vor, zu der die höheren Kreise der Londoner Gesellschaft geladen sind. Im Verlauf des Tages, der mit ihrem Besorgungsgang durch London beginnt, tauchen weitere Personen auf: der noch junge traumatisierte Kriegsheimkehrer Septimus nebst Gattin Lucrezia, Ehemann Richard Dalloway und Tochter Elizabeth, Peter Walsh, der Mrs. Dalloway vor vielen Jahren einen Heiratsantrag machte, um nur einige zu nennen. Der Leser begleitet all diese Personen durch den Tag und wird Zeuge ihrer Gedanken beim Streifen durch London und beim gedanklichen Abgleiten in ihre Vergangenheit und erfährt damit ihre Lebensgeschichten. Insofern scheint Woolf durchaus inspiriert durch James Joyce gewesen zu sein: Der Roman lebt von "Gedankenwelten" und spielt, wie gesagt, an einem einzigen Tag.

Das Ganze wird quasi in einem Guss erzählt, ohne Abschnitte und Kapitel, teils sogar über Seiten ohne Absätze. Das ist gewöhnungsbedürftig zu lesen und erfordert Konzentration. Belohnt wird man, so man sich darauf einläßt, mit einer wunderschönen Sprache, tiefgründigen Gedanken und bemerkenswert fein gezeichneten Charakteren. Sehr gefallen haben mir die Beschreibungen Londons, durch das die Figuren streifen und die die Atmosphäre der Parks und des Flairs der historischen Gebäude und Straßen nachfühlen lassen. Gerade wenn man London kennt, kann man das selbst heute noch, nach immerhin 100 Jahren, wunderbar nachempfinden. Natürlich ist der Roman auch ein Porträt der damaligen britischen Gesellschaft, vor allem aber der oberen Gesellschaftsschicht, ihrer teils arroganten Haltung gegenüber "einfachen" Leuten und der aufkommenden weiblichen Unabhängigkeitsbewegung.

Was mich aber am meisten beeindruckt hat, war die Darstellung der inneren Welten der Protagonisten, d. h. ihrer Gefühle, Sympathien und Antipathien, ihrer Zerissenheit, ihrer Verzweiflung und ihrer Ängste. Hier wird so viel thematisiert: die Suche nach Identität und Selbstbestimmung; die ewige Frage, wie wäre ein Leben verlaufen, wenn man eine andere Entscheidung getroffen hätte; die Fähigkeit, zu lieben; gesellschaftlicher Dünkel der sog. höheren Kreise; Selbstbetrug; Schützengrabenneurose, heute würde man sagen posttraumatische Belastungsstörung, liegt Depression vor, also Krankheit oder "nur" Empfindsamkeit ?; Suizid, dagegen die Fähigkeit zur Resilienz: So schätzt Peter Walsh Mrs. Dalloway ein:"...denn es war ein Lebensfaden in ihr, der Zähigkeit, Ausdauer, Kraft, Hindernisse überwinden und sie triumphierend hindurch kommen ließ, etwas, das er nie gekannt hatte". Ist sie wirklich so oder ist sie "nur" übertrieben selbst bezogen, also egoistisch ?

Die große dichterische Kunst Virginia Woolfs besteht m. E. zum Einen in einer wunderschönen poetischen Sprache und zum Anderen in ihrer Fähigkeit, die Charaktere ihrer Figuren tiefgründig auszuleuchten, in diesem Roman dadurch, dass man Zeuge ihrer Gedanken wird. Ein grandioser Roman, der noch lange nachhallt. Ich vergebe 5 Sterne und eine Leseempfehlung für alle, die sich durch diese Art der Literatur angesprochen fühlen.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 15. Mai 2023 um 23:37

Das bin nicht ich. Aber ohne Zweifel ist diese eine sehr runde, treffende Rezension.

Bajo kommentierte am 19. Mai 2023 um 18:10

Danke, liebe Wanda :-)))