Rezension

Auf der Suche nach Heimat

Vor einem großen Walde -

Vor einem großen Walde
von Leo Vardiashvili

Bewertet mit 4 Sternen

Die Begriffe Glasnost und Perestroika habe ich irgendwann später im Geschichtsunterricht kennengelernt. Der Gorbatschow Kurs von Offenheit und Umgestaltung war die entscheidende Richtung für die friedliche Revolution in der DDR. Den Fall der Mauer habe ich damals als Zweitklässlerin zur Kenntnis genommen und mich gefreut, dass wir nun auch endlich ganz normal Überraschungseier und Orangen im Laden kaufen und die Verwandtschaft „drüben“ besuchen fahren konnten. Die eigentliche Bedeutung der Wende habe ich erst viel später verstanden. Wieviel Glück ich hatte, in der DDR geboren worden zu sein und nicht viel tiefer im Osten, begreife ich immer noch nicht ganz. Es sind vor allem Geschichten wie von Leo Vardiashvili und Nino Haratischwili, die mir dieses Glück aufzeigen. Denn in ihrer Heimat Georgien waren die 90er Jahre geprägt von Unruhen, Massendemonstrationen, Unabhängigkeitserklärungen und Bürgerkriegszuständen. Selbst mit der Hilfe von Wikipedia gelingt es mir nicht ganz, die Entwicklungen im Land nachzuvollziehen. Saba kann sich vor allem an den Kugelhagel in Tbilissi erinnern und an die Granaten, die in den Nachbarhäusern einschlagen. Dem Vater gelingt es mit seinen zwei Söhnen Sandro und Saba nach London zu fliehen. Von Eka, ihrer Mutter, mussten sich die Jungs verabschieden. Das Geld reichte nicht für ein weiteres Visum, zumal Eka keinen eigenen Pass besaß. Das Leben in London ist teuer und die Zeit zu lang, um das nötige Geld zusammenzusparen. Eka stirbt in Tbilissi ohne ihre Söhne noch einmal wieder zu sehen. Sabas Vater verwindet diesen Verlust nicht. Er kehrt schließlich nach Tbilissi zurück und gerät in Schwierigkeiten, denn der Kontakt bricht plötzlich ab. Grund für den großen Bruder Sandro, sich auf die Suche zu begeben und plötzlich sitzt auch Saba im Flieger, weil Vater und Bruder von der georgischen Hauptstadt verschluckt wurden. Es beginnt eine aberwitzige Rallye durch eine unbekannte Heimat, die zwischen Absurdität und Grauen rege hin und her pendelt.

Auf 450 Seiten erzählt Leo Vardiashvili einprägsam und aufwühlend vom Verlust der Heimat, der ganzen großen Familie, der Kindheit und der Eltern. Seine Hauptfigur Saba stolpert fast hilflos durch sein Geburtsland, getrieben von der Angst ganz allein in der Fremde zurück zu bleiben. Rettung naht in der Gestalt des umtriebigen Taxifahrers Nodar, selbst Kriegsflüchtling. Bei Nodar und seiner Frau Keti findet Saba Unterschlupf in der unbekannten Heimatstadt und eine Art Fremdenführer, bis er sich emanzipiert und letztlich selbst zum Retter wird. Es ist eine märchenhaft anmutende Reise zu sich selbst und den Geistern der Vergangenheit in einem vom Krieg dominierten Land, voller schmerzhafter Erinnerungen.