Rezension

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Auf dem Dach der Hölle ... Nicht von dieser Welt!

Eiskalte Hölle - Ilaria Tuti

Eiskalte Hölle
von Ilaria Tuti

Bewertet mit 5 Sternen

+++++ horrible - bewegend – eiskalt – herzbrechend – tiefengeschachtet +++++ 4,75 v. 5 Sternen +++++

Ein kleiner Ort im norditalienischen Hochtal, umgeben von Tausenden Hektar verscheinten Wäldern, vereisten Schluchten und zugefrorenen Abhängen. Und so bitterkalt ist der Winter in diesem idyllischen Paradies, daß selbst die Herzen einer eingeschworenen Dorfgemeinschaft finster schlagen, denn so manch fröstelndes Geheimnis soll verborgen bleiben.

Hier übernimmt die erfahrene Commissario Teresa Battaglia, mit Frischling Ispettore Massimo Marini, die Ermittlungen zu einem ungewöhnlichen Mord, welcher die Kriminalkommissarin & Profilerin aufgrund seiner Art von Ritus, Verstümmelung und Staging nur auf weitere, kommende Tötungen schließen läßt.

Wird dieser mysteriöse Fall Teresa an physische wie psychische Grenzen treiben? Denn der Täter, der mit seiner Umwelt zu verschmelzen scheint, ist von solch andersartigem Wesen, einem Geist, welchem man so noch nie zuvor begegnet ist. Nicht von dieser Welt... ...

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Ilaria Tutis Debüt EISKALTE HÖLLE (Fiori sopra l’inferno ~ Blumen über der Hölle) ist latent von unheilvoller wie düsterer Grundstimmung und schwelender Schaurigkeit spürbar durchzogen, was der Autorin ALLEIN schon per immer mal wieder kurz einfließenden Wetterlage- wie Naturbeschreibungen mit Grandezza gelingt. Und sie hätte diese auch gerne noch öfters oder ausführlicher einbringen können. Die konzise dabei facettenprächtige Darstellung des Settings im Naturgepräge, selbst bis hin zum einfallenden Buran, verdeutlicht dem Leser nur zu gut, daß die Autorin genau weiß von was sie da schreibt - ihren Wurzeln, ihrem Heimatland, ihren Bergen. Trotz dieser komprimiert gehaltenen Einschübe schimmert die omnipräsente Natur fast wie eine eigenständige und sehr wichtige Charaktere durch, anhand derer die Lebenssituationen vieler Akteure gespiegelt und somit beim Lesen noch bewußter hervorgebracht werden; zum anderen, tritt sie wie ein Mahnmal der Kostbarkeit wie Vergänglichkeit des Lebens, des Kreislaufs von Verfall und Werden auf.

Auf der allerersten einen Seite, - meine Begeisterung muß ich hier einfach zu ePapier bringen,- im Wimmern des Windes, z.Bsp., vermeint der Leser fast tote Seelen zu vernehmen, die nie zur Ruhe kommen können, so als ob es Unausgesprochenes, Verheimlichtes drängt, endlich Gehör zu finden. Geister vergangener Zeiten, Opfer der Gegenwart, Auswirkungen auf Ungeborene der Zukunft? Die Natur, der ja selbst Wunden eingeschlagen werden, scheint Trägerin, Übersetzerin, Vermittlerin eines Leids zu sein, das schwärend nie vergehen kann, einer Sehnsucht nach erlösender Gerechtigkeit, die nie verhallt, Sinnbild eines ständigen Überlebenskampfes aller. Die Natur ist auch wie eine Freundin der vier um die 10 Jahre alten Kinder (Mathias, Diego, Lucia, Oliver), die sich hier immer wieder zu friedlichen Freizeit-Treffen gemeinsam verabreden. Doch noch jemand anderes beobachtet sie. Wieso und warum? Das erste Opfer stammt schon mal aus deren Umfeld...

Der Thriller liest sich in einem fort durch, manche Kapitel sind etwas länger, manche knapp, und nicht mal der ein oder andere datierte Zeitsprung in die Vergangenheit noch das Pendeln zwischen diversen Perspektiven hemmen die Übersicht. Überhaupt läuft das Buch wie auf einer Kinoleinwand gleich einem Krimifilm vor dem geistig inneren Auge ab.

Die versierte und überlegene Teamleiterin Teresa, Jahrgang ’58, (also um die 60 Jahre alt,) an Übergewicht leidende Diabetikerin, beeindruckt mit ihrem großen Verantwortungsbewußtsein und der Anteilnahme für die Opfer gleichsam wie ihrer Empathie gegenüber den Tätern. Ein wenig harsch und grumpy arbeitet die Chefin entschlossen bis hin zur Erschöpfung für die Aufklärung dieses Falles, ohne jedoch je ihre Einfühlsamkeit zu unterlassen, wobei Kinder einen besonderen Platz in ihrem Gemüt einnehmen. Auch ihrem neuen Kollegen gegenüber, einem selbstgefälligen ‚Sturm&Drang‘-Jungspund, der sich erst noch als vertrauenswürdiger Partner beweisen muß, nimmt sie nie ein Blatt vor den Mund und läßt dann doch Nachsicht walten, fördert den ambitionierten Massimo in akkuratem Hinsehen und warnt ihn, sich nicht zu übereilter Abfertigung hinreißen zu lassen.

Der smarte Inspektor Massimo Marini ist zwar anmaßend, aber keineswegs gleichgültig sondern mitfühlend und versucht umtriebig sein Allerbestes zu geben, und überzeugt dann durch seinen weichen Kern und seiner Teresa schenkenden Loyalität. Von der Großstadt in die Provinz hatte er sich versetzen lassen, wie ein geblendetes Wildtier, ist jetzt zwar einsam aber endlich frei. Mehr über seinen wissenswerten Hintergrund werden wohl erst Folgebände preisgeben und die Leserschaft wird diesen und jene kaum erwarten können.

Die oft abweisende wie schroffe Haltung der Protagonistin erklärt sich dadurch, daß sie selbst gebeutelt ist, einerseits von einer sich verschlimmernden Krankheit, andererseits von einem ihr eingebrannten Trauer-und Traumaschmerz, der nie verschwindet, nur seine Form veränderte. Ihr wurde Verwerfliches von einer ihr nahe stehenden Person zugefügt, was den Leser erschüttert und berührt, und, das ist ihr Schatten und deshalb ist sie auch so begabt darin, Abgründe zu erkennen. Und herrausragend ist, daß Teresa dennoch nie aufgibt, sich couragiert Herausforderungen stellt, daß sie weiterhin kämpft mit sensiblem Herz und zäher Kraft einer Kriegerin. So erfechtet sie sich zudem auch mal ihre unkonventionelle Überzeugung mit voller Durchsetzungsfähigkeit, aber doch nur um das Richtige zu tun.

Die gesuchte mordende Kreatur gibt Teresa ominöse Rätsel auf, sie hält sie gar für un- oder übernatürlich, da so widersprüchlich und zweigeteilt.

Mit gespanntem Interesse und aufschlussreichem Bildungsgewinn verfolgt man als Leser, wie vorbildlich die Kriminalkommissarin mittels ihrer akribischen Beobachtungsgabe, ihres analytischen Verstandes sowie Feingespürs und eines gefächert profunden Fachwissens fortwährend und quasi von Kapitel zu Kapitel an dem Profil dieses Täters feilt, welches das Abbild dessen Psyche modeliert und damit zu seiner Identität führen kann. Tief gräbt Teresa sich methodisch wie pragmatisch in die Denkweise und das Verhalten und somit der Vorgehensweise von Serientätern, wobei sogar unbeschönigt auf zwei Realkriminalfälle (True Crime Story) Bezug genommen wird (Edmund Kemper!, Igor Rosman). Dabei bleibt sie aber ohne Mutmaßungen zu stellen auch vorsichtig, für gewagte, abwegig erscheinende Hypothesen offen, bzw. die Dringlichkeit auf eine Art Dinge zu betrachten, die man sich nicht einmal vorstellen kann.

Den Zentralkern umkreisen folgende den Leser beschäftigenden und ergreifenden Fragengeflechte:

Wie sollte ein Nest wahrhaft definiert sein? Was geht vor, wenn die Welt aus Stille, aus dem Flüstern des Windes und den Rufen der Tiere besteht? 

Was ist man ohne seine Gedanken, Erinnerungen, Hoffnungen und Träume, worin Persönlichkeit und Würde liegen? Wie begegnet man Einsamkeit?

Der Killer entstellt grauenvoll, tötet wie eine Bestie, lädt horrible Schuld auf sich – doch, ist der Mörder wirklich ein Tier? Das eigentliche Monstrum ist hier wer? Wo, in wem, und in was ist es (noch) zu suchen?

Leadership, Schutz der Gemeinschaft, Naturverständnis, fehlende Elternliebe bilden weitere ausführende Komponenten. 

Bis in die Nebenfiguren legt die Autorin eine besondere Sensibilität in die jeweilige Persönlichkeitsstruktur, sei es bspw. bei den einzelnen der vier Kinder (die angesichts gefühlskalter Eltern überleben, kämpfen und trotzdem lieben) oder beim Pathologen (Antonio Parri) der die Verstorbenen, seine Gäste, mit Respekt behandelt, und mit seiner Menschlichkeit das Institut für Rechtsmedizin adelt und ihm so einen gewissen Teil seines Schreckens nimmt.

Natürlich kommt auch die Stereotype eines eigenmächtigen Sturkopfes von Dorfpolizeivorstehers vor (Capo Knauss), der Teresas hohe Kompetenz zu untergraben sucht und ihr entgegenarbeitet, aber genau hier wird nur wiederholt Teresas Engagement betont, was ihr allen Kampf abverlangt (und somit nur ihrem Nachnamen gerecht wird).

Certo, sicherlich, man hat seine Vermutungen über den Plot, Stück für Stück setzen sich die detailreichen Teilchen wie Schneeflockenkristalle dicht um dicht zusammen; v.a. mit den eingewobenen Rückblicken in den November des  Jahres 1978 auf das Treiben in einem verlassen wirkenden Waisenhaus mit angeschlossener Schule in Österreich (bereits mit Kapitel 12), und allerletztlich via den im Schreibmaschinendruck abgesetzten präzisen Aufzeichnungen von 1993 skizziert sich die Auflösung klar ab - und DOCH fährt die endliche Einfassung aller Aspekte, die psychologische Tragweite und tiefgeschachtete Auflösung mit einer derartigen Wucht unter die Haut des Lesers, daß sie einem das stockend Herz bricht und man total erschüttert in Tränenströmen im Anblick der ‚Blütenblätterblume‘ aufgelöst innehalten muß. 

+++++ „Das Leben machte Angst, wenn man seinen häßlichen Seiten ins Auge sah, und dennoch blieb es heilig, unverletzlich, ein außergewöhnliches Abenteuer, dem man mit wild schlagendem Herzen und einem Sinn für das Wunderbare begegnen sollte, selbst wenn es so viel Schmerzliches bereithielt.“ (S.89). +++++

* F A Z I T :*  Man rüste sich mit dickem Fell: dieser Thriller zieht wie kriechende Eiseskälte über den Rücken. Ilaria Tuti – ein Naturtalent, noch Geheimtipp und gewiss bald INTERnationale Bestsellerautorin zeichnet mit großer Begabung und innigem Feingefühl einen psychologischen Thriller wie ein aufsteigender Stern dieses Genres. Auf dem Dach der Hölle gelingt ihr Unglaubliches: dem Leser die Entdeckung von Blumen nahezubringen (oder dem, der sich nur auf Blumen konzentriert, die Augen durch die Oberfläche zur präsenten Hölle zu öffnen). Man merke sich ihren Namen, halte Ausschau nach ihren Werken, diese Seelenberührung und Bereicherung für ein gutsortiertes Bücherregal möchte nicht mehr gemisst werden. Auf zahlreiche Folge-Bände und eine lange Thrillerreihe: in bocca al lupo!

AUSBLICK:

Der gerade auf Italienisch erschienene zweite Teil dieser Serie von Ilaria Tuti heißt und handelt von NINFA DORMIENTE (~Schlafende Nymphe), ein Gemälde von sagenhaft magnetischer Schönheit, von einem jungen ital.Partisankämpfer in den letzten Tagen des 2ten WKs erarbeitet. Dieses Kunstwerk trägt jedoch in sich ein schrecklich schockierendes Geheimnis, verborgen in den roten Pigmenten auf der Leinwand – denn es wurde mit Blut gemalt, mit Blut eines menschlichen Herzens. Wem gehörte dieses Herz? Die Blutspur führt Teresa Battaglia nach Resia, einer kleinen 1200 Seelengemeinde im Nordosten Italiens - einer Enklave perfekten Genpools...