Rezension

Amüsante Geschichten aus einer anderen Zeit

Unser Herr Vater
von Clarence Day

Bewertet mit 5 Sternen

»Seiner Erfahrung nach erforderte alles Ausdauer. Das Motto hieß: Nicht nachlassen! Er selbst hatte sein ganzes Leben lang, allen Entmutigungen zum Trotz, nie nachgelassen, und dabei wollte er bleiben, und ich sollte es ebenso machen. Er sagte, niemand von uns habe auch nur eine Ahnung davon, was er alles durchgemacht habe. Hätte er zu den Leuten gehört, die vor dem ersten Hindernis schlapp gemacht hätten – wo wäre er dann? Jawohl, ja, wo würde dann wohl seine ganze Familie sein?! Die Antwort auf diese Fragen war augenscheinlich die, dass wir im Elend sitzen, dass wir die Brotrinden aus der Gosse klauben müssten oder dass wir überhaupt nicht vorhanden sein würden. Wenn Vater keine Ausdauer gehabt hätte, würden wir einfach nicht geboren sein!«

Clarence Day erzählt Geschichten aus seinem Leben, über seinen Vater und über das Leben mit ihm. Was gibt es da groß und buchfüllend zu berichten, wenn der Vater nicht gerade eine Berühmtheit war? Nun, lauter alltägliche Dinge, häufig Banalitäten, die man aus dem eigenen Leben kennt. Der Reiz liegt einfach in der Person des Vaters, in seinem Charakter, der für die damalige Zeit eigentlich so ungewöhnlich nicht war. Vielmehr wird so manches, worüber der heutige Leser nur amüsiert den Kopf schütteln kann, dem Leser zum Zeitpunkt des Erscheinens des amerikanischen Originals (1935) recht bekannt vorgekommen sein.

 

Wir befinden uns in einer Zeit, in der der Vater noch der Ernährer der Familie ist und daraus seine Stellung als Familienoberhaupt ableitet. Frau und Kinder ordnen sich entsprechend unter. Zumindest auf den ersten Blick…

Mrs. Day beispielsweise versucht ständig, sich kleine Freiheiten zu erkämpfen. Meist in der Form, dass sie Teile des ihr zur Verfügung gestellten Haushaltsgelds „unterschlägt“ oder gleich anders verwendet, als der Herr des Hauses es sich vorgestellt hatte. Dabei zeigt sie eine erstaunliche Kreativität und Beharrlichkeit und schafft es sogar, zusammen mit einer anderen Dame (aber natürlich auf Mr. Days Kosten) nach Ägypten zu reisen. Vor allem seine Reaktionen sind dabei stets sehr unterhaltsam zu lesen ;-)

Tja, und die Kinder… Sie lieben und achten ihren Vater, gehorchen häufig und versuchen ansonsten, ihren eigenen Interessen zu folgen, möglichst ohne dass es auffällt…

»Er lebte sein Leben und wir, grade unter seiner Nase, das unsrige.«

 

Schreibstil und Wortwahl sind wirklich schön und unterhaltsam zu lesen. Die deutsche Übersetzung ist von niemand geringerem als Hans Fallada, der Day – so heißt es – als einen „literarischen Zwilling“ empfand. Mir gefiel besonders der charmante und liebevolle Ton, der sich durch den gesamten Text zieht. Selbst an Stellen, in denen der Autor mit seinem Vater und dessen Meinung ganz und gar nicht einverstanden ist, hat sein Text nichts von einer kritischen Abrechnung. Vielmehr blickt er mit viel Liebe, Humor und einem Augenzwinkern auf so manche menschliche Schwäche oder Fehlleistung zurück. Übrigens auch auf seine eigenen, zum Beispiel wenn er von seiner Unpünktlichkeit oder mangelnden Sparsamkeit schreibt. Oder von seiner Musikalität…

»Ich schlachtete grade wieder im Kellerzimmer eine Tonleiter ab… ...Was würde der Musiker, dessen Herzen diese Töne vor Jahren entströmten, gefühlt haben, hätte er ihr Ende in Madison Avenue voraussehen können? Wenn er geahnt hätte, wie die einst friedliche Nachbarschaft diese Melodie verfluchen würde, ehe sie für immer verklang?«

 

Die Episoden spielen nicht nur zu der Zeit, als der Erzähler noch ein Junge war, sondern der Leser kann ihn und seinen Vaters bis (fast) an dessen Lebensende begleiten. Ganz nebenbei macht man dabei auch eine kleine Zeitreise, erlebt beispielsweise mit, wie „Vater das Telefon ins Haus [lässt]“. Im Anhang gibt es mehrere Seiten von Anmerkungen, die auch bei heute nicht mehr gebräuchlichen Ausdrücken helfen. Und eingestreut im Buch kann man sich über insgesamt zwölf Original-Zeichnungen von Clarence Day freuen.

 

Clarence Shepard Day wurde 1874 als Sohn eines Börsenmaklers in New York geboren. 1897 trat er in die Firma des Vaters ein, war aber durch eine schwere Krankheit vom 30. Lebensjahr an bis zu seinem Tod meist ans Bett gefesselt. Trotzdem war er in dieser Zeit nicht untätig und fertigte unter anderem literarische Artikel und Karikaturen. „Unser Herr Vater“ erschien 1935 und machte ihn schlagartig berühmt. Die Bühnenfassung gilt als einer der größten Broadway-Erfolge aller Zeiten. 

 

Fazit: Humorvolle Zeitreise, charmant und liebevoll geschrieben. 

 

»Aber als Mutter schließlich die Zivilisation hinter sich ließ und sogar über ihr entlegenes Außenfort Kairo hinaus war, den Nil in einem „Dahabieh“ genannten Fahrzeug hinauffuhr, mit eingeborenen Bootsleuten, und als Briefe aus alten Städten mit seltsamen Namen kamen – da wurde Vater wieder nervös. Er sagte, alles, was er von Ägypten sehen wolle, könne er prächtig kennenlernen, ohne New York zu verlassen. Es gäbe weiß Gott genug mulstrige alte Mumien im Museum, um jeden satt zu machen. - »Aber eure Mutter wollte ja keinen Blick auf sie werfen, sie werden ihr wohl noch nicht tot genug gewesen sein. Sie musste sich natürlich auf die Beine machen, um die Mumien im eigenen Heim zu sehen! Und dabei hat jemand sogar mit größten Unkosten einen Obelisken von da mit rübergebracht, der hier im Park allmählich zerbröckelt, und den können sich die Leute ganz für umsonst ansehen – aber eurer Mutter wird er wohl nicht bröcklig genug gewesen sein!«