Rezension

Als Landärztin in Wales

Ein glückliches Tal -

Ein glückliches Tal
von Polly Morland

Bewertet mit 4.5 Sternen

Als Polly Morland das Haus ihrer Mutter ausräumt,  findet sie (eingeklemmt hinter den Metallstreben eines Bücherregals) „A Fortunate Man“, das 1967 erschienene Buch von John Berger (ISBN‎ 978-1782115038) über den legendären  Landarzt John Sassall. Sassall praktizierte im Forest of Dean/Gloucestershire. Erst durch Morlands Recherche wird der heutigen Inhaberin der Praxis (*1971) bewusst, dass sie eine Nachfolgerin des Landarztes ist, dessen Klassiker u. a. entscheidend für ihre Berufswahl  war und  ihren Lebensweg weiter beeinflusste, als sie sich spontan für die Allgemeinmedizin entschied und sich auf eine Halbtagsstelle bei Sassalls Nachfolger bewarb. Als die junge Ärztin die Praxis „im schönsten Tal der Welt“ übernimmt, hat sie eine Generation zu betreuen, die teils noch den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, Jammern nicht gewohnt ist und erst kurz vor dem Zusammenbruch zum Arzt geht. Nach der größten denkbaren Vertrauenskrise zwischen Medizin und Patienten durch die Corona-Pandemie, muss 20 Jahre später ihre Profession das Vertrauen wieder zurückgewinnen, das u. a. sie durch zwei Jahrzehnte Zuwendung aufgebaut hat. Mich hat „A Fortunate Woman“ u. a. mit ihrer  Vielseitigkeit beeindruckt und der Selbstverständlichkeit, mit der sie bereitwillig die Verantwortung für Probleme der Gender Identity oder die ADHS-Diagnose eines Schulkindes   übernimmt.

„Ein glückliches Tal“ ist auch ein Buch über einen Klassiker, der Generationen von Medizinern prägte und nicht vergessen werden sollte. Der Klappentext könnte falsche Erwartungen wecken. Auf nur 300 Seiten bietet Morlands Reportage zwar auch die erwarteten Anekdoten aus einer Landarztpraxis, porträtiert eine ideale Hausärztin, die Beruf und Familie glücklich vereinbart, sie liefert jedoch zugleich eine ernsthafte Bestandsaufnahme des englischen Gesundheitssystems nach Corona und der Krise eines Berufs, der weiblich geworden ist.