Rezension

Achtmal literarischer Genuss

Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte - Tom Coraghessan Boyle

Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte
von Tom Coraghessan Boyle

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ein Mann flieht mit seiner Familie vor den Gefahren der Zivilisation in die Wildnis und weckt dort den Dämon in sich. Eine junge Liebe scheitert an der Sucht nach Sauberkeit und Keimfreiheit. Eine Wissenschaftlerin wird in einem Orkan von einem umherfliegenden Kater zu Fall gebracht und begegnet ihrer großen Liebe. In T.C. Boyles Geschichten lauert die Apokalypse hinter jeder Straßenecke, und es wimmelt nur so von schrägen Typen, schicksalhaften Entscheidungen und dramatischen Begegnungen. (von der dtv-Verlagsseite kopiert)

Moderne Liebe: Bredas Hygienebewusstsein ist übergroß, und sie verlangt von ihrem Freund nicht nur perfekte Sauberkeit, sondern auch ein ärztliches Gutachten über seinen Gesundheitszustand.

Wenn der Fluss voll Whisky wär: Tiller leidet unter den ständigen Streitereien und der Trinkerei seiner Eltern. Auch im Urlaub ist alles wie immer. Doch eines Tages beschließt der Vater, zusammen mit seinem Sohn fischen zu gehen.

Windsbraut: Tatsächlich beginnen der etwas beschränkte Robbie und die Amerikanerin Junie, die auf den Shetlands ornithologische Beobachtungen macht, eine Liebesbeziehung.

Torschlusspuder: Eine Gruppe Frauen kommt aus Kalifornien nach Alaska, um echte Männer kennen zu lernen. Ned verliebt sich in Jordy, auf die auch der brutale Bud ein Auge geworfen hat.

Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte: Betrunkene Gespräche in einer Bar, und Familiengeschichten, die von Verlusten erzählen. Mit einem Schlussabsatz, der den Leser kurz Achterbahn fahren lässt.

Zu allem bereit: Ein Mann zieht mit seiner Familie weit weg von der Zivilisation, um sie zu schützen, aber kann man wirklich die absolute Sicherheit kaufen?

Chicxulub: Eltern erfahren vom schrecklichen Unfalltod ihrer Tochter. Es ist wie ein Meteoreinschlag in ihr Leben. Mit einer unglaublichen Pointe. – Meine persönliche Lieblingsgeschichte, von der ich den Schluss zweimal lesen musste, um ihn zu glauben.

Zähne und Klauen: Ihm ist langweilig, und er hätte gern eine feste Freundin. Stattdessen gewinnt er eine Wildkatze und lockt ein Mädchen.

 

Kurzgeschichten zu schreiben erfordert andere Kriterien als ein Roman – die Figuren müssen sofort präsent sein, und die Handlung hat nur wenige Seiten Zeit, um sich zu entfalten. Nicht alle Autoren ansprechender Romane verstehen sich auf die kurze Prosa, aber Boyle begeistert mit seinen bis heute ca. 70 veröffentlichten Erzählungen und Kurzgeschichten ebenso wie mit seinen Romanen. Egal, ob er die kurze oder lange Erzählversion wählt: Seine Figuren sind klar umrissen, oft leiden sie an merkwürdigen Ängsten oder Neurosen, viele sind dem Alkohol verfallen, einige leben unter schwierigen Umständen. Die Art, wie diese Personen gezeichnet sind, das Skurrile und Originelle, lassen den Einfluss John Irvings erkennen, der Boyles Mentor war.

Jede Erzählung für sich spielt in einem Mini-Kosmos; dieser kann eine Familie sein, ein Stadtteil, eine Insel. Eine Bar gehört in den meisten Fällen dazu. Die beträchtliche Anzahl der Trinker führt in Boyles Biographie zurück: Das Thema des Alkoholkonsums kennt er von beiden Eltern.

Motive aus seinen Romanen finden sich auch in den Geschichten wieder, z.B. der Versuch, sein Leben umzukrempeln oder einen Neuanfang zu wagen (San Miguel, Drop City), eine gefühlte Bedrohung (Hart auf hart) oder das einsame Leben abseits der Städte.

Boyle schreibt nicht „auf Pointe“ (Geschichten also, die nach einem Schlusseffekt rufen); dennoch ist es in den meisten Fällen der letzte Abschnitt, der den Leser mit einem Schmunzeln, einem Erschrecken oder Zufriedenheit zurück lässt.

Auch wenn die Erzählungen anderen Kurzgeschichten-Sammlungen entnommen sind: Eine gut gewählte Zusammenstellung und ein geeigneter Querschnitt, um Boyles Art zu schreiben kennen zu lernen. Diejenigen, die seine Romane kennen, werden ohnehin Freude an seinen Geschichten haben.