Rezension

5 Sterne in der Rezension und eine 100 %-ige Leseempfehlung

Das Geheimnis von Silverton Hall -

Das Geheimnis von Silverton Hall
von Anett Diell

Bewertet mit 5 Sternen

der Roman ist wirklich gelungen - nur dann lesen, wenn man genügend Zeit hat, denn es ist schwierig, gleich zwei ineinander verschlungene Liebesgeschichten beiseitezulegen, bevor man zur Auflösung gelangt ...

>>>INHALT

Der Roman spielt in England auf zwei Zeitebenen: einmal zur Zeit des "Fin de Siècle", also zum Ende des 19. Jahrhunderts, als der Adel an Einfluss verlor und sich ebenso sinnlos wie energisch an sein ausgeprägtes Standesbewusstsein sowie die gewohnten Vorrechte klammerte. Die andere Zeitebene liegt beinahe in der Gegenwart [2009].

Erzählt werden gleich zwei intensive Liebesgeschichten, die sich an einem Schauplatz entwickeln: Silverton Hall, Landsitz im Besitz der Familie Asbury nahe dem kleinstädtischen Silverton.

Beide Romanzen entstehen gegen Widerstände; ihr Zustandekommen mutet geradezu unwahrscheinlich an. Sympathische, sich allmählich füreinander öffnende Protagonisten, die sich gegen Hemmnisse durchsetzen, wecken das Interesse, kitzeln beim Lesen Emotionen wach und lassen mitfiebern, denn im Verlauf der Lektüre schleicht sich die Vermutung ein, dass auch ein Verbrechen Teil des Familiengeheimnisses sein könnte, dessen Aufklärung u. a. Gegenstand der Handlung ist.

Immer wieder werden interessante Aspekte der Fotografie als technischer Prozess sowie als Kunstform in die Erzählung eingestreut.

Lebhaft zeichnet Anett Diell zwei sehr unterschiedliche Ären, die gut ein Jahrhundert trennen – wobei sich gegen Ende des Romans die Frage aufdrängt, ob sich trotz aller gesellschaftlichen Entwicklungen tatsächlich tief greifende Veränderungen hinsichtlich des Verhaltens der Menschen ereignet haben. 

>>>STILMITTEL

In einem fesselnden und raffiniert komponierten "Pas de deux", also einem Tanz für zwei Personen, schickt uns die Autorin durch die Handlung ihres Romans. Unkompliziert und angenehm lassen sich die beiden Zeitebenen jeweils am Beginn der Kapitel erkennen – keine unnötigen Verkomplizierungen, was ich persönlich schätze. Ich irre nämlich nicht gern seitenlang orientierungssuchend durch meine Lektüre, wenn ich zu meiner Unterhaltung lese.

Vergangenheit und Gegenwart sind in diesem Roman eng miteinander verflochten trotz der zeitlichen Distanz, worauf früh hingewiesen wird (z. B. Frühling und seine Effekte auf die Landschaft in der Schilderung der Gegenwart/ Herbst und seine Auswirkungen im korrespondierenden Abschnitt, der in der Vergangenheit spielt) und das nicht nur, weil familiengeschichtlich Wurzeln ständig Knospen und Schösslinge bis in die Gegenwart treiben.

Die beiden weiblichen Hauptfiguren – Audrina und Elaine – besitzen sozusagen Schnittmengen, wenn der prosaische Ausdruck aus der Mathematik hier einmal erlaubt werden kann: Audrina ist fortschrittlich, um 1890 eindeutig ihrer Zeit weit voraus, indem sie Ziele des Frauenrechts verfolgt, Hosen trägt und für den Geschmack ihrer Zeitgenossen unangebracht selbstbewusst ihre eigenen Meinungen entwickelt sowie vertritt; Elaine besitzt noch nicht einmal ein Handy, um nur diesen einen Indikator dafür zu nennen, dass sie sich in vielem nicht an dem orientiert, was 2009 angesagt bzw. allgemein üblich ist. Die beiden weiblichen Hauptfiguren schwimmen also nicht mit den Strömungen ihrer Zeit, sondern heben sich ab, ähneln einander aber in einer Hinsicht: Starke Frauen sind das, die unbeirrt Kritik bzw. Unverständnis ihrer sozialen Umgebung aushalten.

Dass die beiden liebenden Männer (James und Henry) ähnliche Züge aufweisen, sollte angesichts der Tatsache, dass einer vom anderen direkt abstammt, nicht weiter verwundern. 

Sprachlich passen sich die jeweiligen Kapitel der Zeit an, in der sie spielen, und zwar nicht nur im Rahmen der direkten Rede. Das ist ansprechend gelöst, nimmt mit und lässt die Zeitsprünge mühelos beim Lesen nachvollziehen. Ich persönlich mag den historischen Part auch deshalb besonders, da dort in besonderer Weise auf den Reichtum der deutschen Sprache zurückgegriffen wird, was in reiner Gegenwartsliteratur oft nicht (mehr) der Fall ist.

>>>PLOT

Die Spannungskurve des Werks gleicht der eines Kriminalromans: Nach anfänglich detailreicheren Schilderungen, die Atmosphäre, Personen und Ereignisse rund um  Silverton Hall im Gestern & Heute darstellen, nimmt die Handlung im letzten Drittel das Buches deutlich an Fahrt auf, da ein Kapitalverbrechen in der Geschichte der Asburys vermutet werden muss, eine tödliche Gefährdung der innigen Liebesgeschichte zwischen James und Audrina, die mich als Leserin recht eilig durch die letzten fünf Kapitel gejagt hat, um meine Fragen zu klären – ich kann daher nur empfehlen: Zeit einplanen für die Lektüre.

Der Showdown der Lovestory, die in der Gegenwart spielt, ist in heftigen Farben gezeichnet - mir persönlich manchmal ein bisschen zu bunt, zu kumulativ, aber stimmig und gekonnt – daher nur eine Bemerkung dazu und kein "Punktabzug", denn was mir hier nicht zusagt, hängt ja lediglich von meinem persönlichen Geschmack ab.

Die Entwicklung der Handlung folgt dem Konzept eines Parallelogramms: Vergangenheit und Gegenwart lehnen sich eng aneinander an – wenn es beispielsweise hier in einen Bahnhof geht, dann auch dort. Das verlangt erzählerisches Geschick; der Autorin gelingt es jedoch, mühelos ihre Geschichte vorzutragen: Wer die Bezugspunkte zwischen Gegenwart und Vergangenheit als Beweise eines auf hohem Niveau verfassten Textes sehen und sich an diesen Entdeckungen freuen möchte, kann das; wer sich lediglich entspannend unterhalten lassen und nicht unbedingt scharfsinnig mitdenken will, dem fehlt am Ende nichts. So mag ich Erzählkunst: in Schichten arrangiert, an denen man sich nach Belieben & Bedarf bedienen kann.

Über die beiden Liebesgeschichten kann hier nichts verraten werden, ohne zu viel zu sagen. Daher nichts dazu, abgesehen von der Feststellung: Das Werk beweist, dass eine Lovestory sich fesselnd erzählen, eine Liebesbeziehung sich ausgesprochen intensiv darstellen lässt, ohne dass man den beteiligten Protagonisten bis ins Schlafzimmer oder gar bis zur detaillierten Schilderung des Austauschs von Körperflüssigkeiten folgen muss. Meine persönliche Ansicht: Spice mag beim Lesen prickeln, bringt aber in den wenigsten Fällen die Handlung voran. ;-)

>>>SO WIRKT DER ROMAN AUF MICH

Die Autorin scheint, so kommt es mir zumindest vor, eine Art Utopie entwickelt zu haben, in der eine "ideale Frau" auftaucht, dort, wo sich – jenseits von Zeit und Raum der Story – Audrina und Elaine begegnen: zwei Charaktere, die das Beste aus ihrem Leben angesichts der gesellschaftlichen und historischen Umstände machen, um das Wichtigste zu tun, das es auf dieser Welt gibt: zu lieben. Zwei Persönlichkeiten, die eine unerhört positive Form innerer Gelassenheit entwickelt haben, welche sich u. a. als Voraussetzung dazu entwickelt, dass ihre männlichen Partner lernen, sich ihnen zu öffnen, um ihnen liebend zu vertrauen. Es sind diese beiden Frauen, die aufgrund ihres Wesens und ihrer Handlungen dafür sorgen, dass es hier überhaupt zwei Liebesgeschichten zu erzählen gibt.

Manchmal wirken makellose Charaktere eher abstoßend, weil es so ernüchternd ist, vergleicht man/frau sich mit ihnen. In diesem Werk nicht. Hier kam es mir eher so vor, als ermutige der Roman dazu, an Liebe und Offenheit zu glauben, die so viel ermöglichen können ...

>>>COVER

Zum Cover kann ich nur sagen: Passt in meinen Augen zum Buch, wird aber dessen Qualität nicht gerecht, da es sich um ein eher typisches Bild für das Genre ohne besondere Merkmale handelt, das aus mehreren Fotos komponiert wurde, jedoch ohne Pfiff. Wie so eine spezielle Note hätte aussehen können? Keine Ahnung - ich rezensiere ja nur den Text ;-) Vielleicht hatte ich hier eine Spiegelebene erwartet, etwas, das die parallelen Handlungen ins Bild setzt.

Architektonische Feinheiten im Gebäude erkenne ich übrigens nicht – denn davon verstehe ich nix.

ACHTUNG: KEIN HISTORISCHER SACHVERSTAND AM WERK

Der Roman enthält etliche Bezüge zum historischen Umfeld und zu technischen Details der Geschichte der Fotografie, über die uns Anett Diell viel auf eine unaufdringliche, leicht verdauliche Weise vermittelt.

Ich bin die falsche Person, in der Story historische Schwächen oder andere Ungereimtheiten aufzuspüren und habe nicht diesbezüglich recherchiert. Ich beziehe mich mit meiner Bewertung auf die o. g. Parameter – mehr nicht.

>>>FAZIT

Ein gelungenes Werk, das viele Facetten harmonisch und ansprechend erzählend zusammenbringt: die klassische Lovestory in doppelter Dosis angereichert um Anteile aus den Bereichen historischer Liebesroman, Familienroman, ja sogar ein wenig Adelsroman und Kriminalroman sowie ein Hauch Gesellschaftsroman lassen sich finden.

Daher insgesamt gerne 5 Sterne.