Magazin

Der Dystopie-Hype im Jugendbereich

Warum nicht jedes Buch den Stempel "Dystopie" auch verdient hat

Dystopie? Postapokalypse? Oder doch einfach nur Fantasy? Gerade der Begriff "Dystopie" ist momentan so trendig, dass seine wahre Bedeutung schon fast verloren geht. Deshalb möchte ich gerne die folgende Überlegung mit euch teilen :-)

Als vor Jahren die Reality-Show "Big Brother" ins Fernsehen kam, war das Buch "1984" von George Orwell - der literarische Klassiker, der den Ursprung für die Bezeichnung der Show geliefert hat - kurzzeitig wieder in aller Munde. Der große Trend blieb damals aus, doch heute sind Dystopien beliebter als je zuvor und der absolute Verkaufsschlager, gerade im Jugendbereich.

Dystopien gehören seit jeher zu meinen Lieblingsbüchern und fasziniert habe ich mir seit Orwells Klassiker jedes dystopische Buch geschnappt, das ich kriegen konnte. Doch seit einer Weile fällt mir immer mehr auf, wie der Begriff „Dystopie“ verschwenderisch, ja fast schon inflationär für jedes neu erscheinende Buch verwendet wird. Doch wo Dystopie drauf steht, ist leider noch lange nicht immer Dystopie drin und wer danach sucht, steht manchmal mit einem großen Fragezeichen im Gesicht vor der Buchauslage.

Quasi jede fantastische Neuerscheinung auf dem Jugendbuchmarkt bekommt derzeit den Stempel Dystopie aufgedrückt. Schuld daran ist in meinen Augen die Definition bei Wikipedia, auf die viele gerne zurückgreifen:

 »Eine Dystopie handelt von einer Gesellschaft, die sich zum Negativen entwickelt«.

Ja, stimmt schon. Aber das ist so, als würde man sagen, alle Früchte sind Äpfel. Falsch! Äpfel (=Dystopien) sind nur eine Art Früchte; Früchte haben viele verschiedene Unterarten und so ist nicht jede Geschichte, bei der sich die Gesellschaft ins Negative entwickelt hat, eine Dystopie. Wenn  morgen ein Krieg ausbricht, würde sich unsere Gesellschaft sicherlich bedeutend negativer entwickeln, wäre deshalb aber trotzdem noch keine Dystopie. Wenn ein Atomkraftwerk explodiert und wir alle verstraht werden, ist es keine Dystopie. Und wenn wir uns durch die Strahlung alle in Zombies verwandeln? Nein, immer noch keine Dystopie. 

 
Aber was ist denn dann eine Dystopie?

Ich bin natürlich kein Experte, habe weder Literaturwissenschaften studiert noch sämtliche vorhandene Dystopien bis ins Detail analysiert. Und über eine richtige Definition für den Begriff "Dystopie" herrscht keine Einigkeit, weshalb es nur verständlich ist, dass jeder irgendwie eine andere Auslegung hat. Eine Debatte darüber könnt ihr auf dystopischeliteratur.org finden. Der Ursprung der Dystopie liegt in der Utopie, dem idealen Gesellschaftsentwurf, der Gesundheit und Wohlstand für alle Menschen bereithält. Auch bei der Dystopie steht der Gesellschaftsentwurf im Vordergrund, nur ist sie hier ins Gegenteilige gekehrt.

Damit eine negative Gesellschaftsentwicklung das Label "Dystopie" tragen darf, sollten allerdings schon ein paar mehr Kriterien erfüllt sein als lediglich, dass die Geschichte in der Zukunft spielt und es den Menschen schlecht geht. Merkmale einer klassischen Dystopie sind zum Beispiel:

- Manipulation des Geschichtsbildes
- Kollektivismus aufgrund eines Gleichheitsideales
- Unterdrückung abweichender Identität und Privatheit
- absolute staatliche Kontrolle von Liebesbeziehungen und Familie
- antidemokratische Staatsführung
- Propaganda
- Überwachung
- Terror, Folter, Manipulation und Liquidierung Andersdenkender

Zu den "klassischen" Dystopien, die diese Merkmale enthalten und das Genre überhaupt erst gebildet haben, zählen "1984" von George Orwell, "Wir" von Jewgenij Samjatin, "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury oder "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley.
Rennen jetzt zum Beispiel Zombies durch die Gegend, hat sich die Gesellschaft zwar ins Negative entwickelt, es ist aber keine Dystopie, sondern eine Post-Apokalypse. Auch mein geliebtes "Angelfall" ist in meinen Augen keine Dystopie, sondern eine Post-Apokalypse. "Vollendet" von Neil Shusterman oder "Die Auswahl" von Ally Condie dagegen fokussieren nicht nur auf das gesellschaftliche System, sie erfüllen auch ein paar der oben genannten Kriterien und zählen zurecht zu den Dystopien. 

Und du weißt natürlich alles besser als wir?

Nein, natürlich nicht! Auch mir fällt eine klare Trennung nicht immer leicht. Hilfreich fand ich da z.B. die Grafik hier, die von Erin Bowman erstellt wurde (die Autorin der Dystopie "Taken") und in der sie bekannte Bücher entweder als Dystopie oder als Post-Apokalypse einordnet. Dabei zeigt sie aber auch, dass aus einer Post-Apokalypse durchaus eine Dystopie resultieren kann; klar, wenn die Lebensumstände gerade eh schlecht sind, kann auch sehr schnell ein antidemokratisches System entstehen; in der Geschichte der Menschheit gibt es dafür genug reale Beispiele.

Ihr seht, eine trennscharfe Unterscheidung ist nicht immer leicht. Und eigentlich ist es ja auch vollkommen schnurz, welchen Stempel wir unseren Lieblingsbüchern aufdrücken. Aber bitte tut mir den Gefallen und bezeichnet nicht alles als Dystopie, nur weil ein Buch in der Zukunft spielt und da nicht alles rosig ist. Denn sonst weiß am Ende niemand mehr, was eine Dystopie überhaupt ausmacht. Und das Genre Post-Apokalypse hat immerhin auch seine Daseinsberechtigung ;-)

 

Ursprünglich geschrieben für Friedelchens Bücherstube.

 

Kommentare

bquadrat kommentierte am 02. Februar 2014 um 23:10

Hallochen

Ich habe mir letztens auch darüber Gedanken gemacht und ich bin zu dem schluß gekommen das die Dystopie für mich eine Untergruppe der Fantasy ist. Allerdings lese ich Dystopien auch sehr gerne. Deinen Artikel finde ich sehr interressant und er ist dir gut gelungen.

Liebe Grüße B

Sommerzauber02 kommentierte am 03. Februar 2014 um 08:45

Danke Friedelchen für deinen Beitrag. Ich habe mich bisher kaum mit Dystopien auseinandergesetzt, daher bin ich für deine Aufklärung dankbar. Ich kenne ebenfalls "1984" und "Schöne neue Welt";  Erstere als Buch und Film. Aber neuere Literatur würde ich eher kaum lesen. Mir sind die Geschichten zu düster; so habe ich zumindest "1984" in Erinnerung.

thelinesbetween kommentierte am 03. Februar 2014 um 11:43

Sehr gut beschrieben!

Ich habe das für mich bisher auch immer mit dem Schlagwort "Gesellschaftsentwurf" geklärt. Also wenn eine zukünftige Gesellschaft dargestellt wird, die sich strukturell deutlich von unserer unterscheidet. Dann: Positive Gesellschaftsordnung -> Utopie // Negative Gesellschaftsordnung -> Dystopie

Über die Abgrenzung zur Post-Apokalypse habe ich mir bisher noch nicht so viele Gedanken gemacht - da werde ich in Zukunft mal drauf achten!

Cthulhu kommentierte am 03. Februar 2014 um 14:40

Ich finde sowieso, dass gerade im Jugendbuchgenre der Begriff "Dystopie" sehr inflationär benutzt wird...

Wer übrigens "1984" und "Schöne neue Welt" mochte, sollte unbedingt auch den dritten großen Klassiker im Bunde lesen: Philip K. Dick, "Eine andere Welt". Bleibt leider oft unerwähnt.

Und nicht unerwähnt möchte ich "Vaterland" von Robert Harris lassen. Eine beklemmende "Was-Wäre-Wenn"-Geschichte, die mir Seite um Seite eine Gänsehaut bescherte, da die dargestellte Dystopie kein mahnendes Zukunftsszenario ist, sondern ein Zustand, der in der Realität gerade noch mühsam abgewendet werden konnte...

Streiflicht kommentierte am 03. Februar 2014 um 18:38

interessanter artikel! habe erst neulich den begriff nachgeguckt, weil er mir bisher noch nicht geläufig war. denke auch, dass das zum oberthema fantasy gehört. wer kann denn ein gutes buch dieser kategorie empfehlen?

Friedelchen kommentierte am 15. Februar 2014 um 13:10

Magst du es eher "erwachsen"? Dann lies unbedingt den Klassiker "1984" von Orwell oder "Der Report der Magd" von Margaret Atwood. Im Jugendbereich gibt es diverse gute Bücher, empfehlen kann ich "Vollendet" von Neal Shusterman oder "Legend" von Marie Lu.

Streiflicht kommentierte am 15. Februar 2014 um 18:24

dann lese ich wohl demnächst mal 1984. ich denke, das ist wohl der klassiker schlechthin in diesem genre. danke für die schönen tipps!

helene kommentierte am 03. Februar 2014 um 19:34

Vielen Dank für deinen Artikel, der hat mir gut gefallen.

Noch 2 Fragen, die mich beschäftigen: Woher kommt eigentlich der Begriff "Dystopie" bzw. wann hat er begonnen sich in der Literaturwelt zu verbreiten?

Und, warum liegen eigentlich Dystopien, bzw. wohl eher die Postapokalypsen, derzeit so im Trend bei der Jugendliteratur?

Kathrinsbooklove kommentierte am 03. Februar 2014 um 20:11

Erstmal an Friedelchen ein Dankeschön für den tollen Artikel!

Warum Dystopien so beliebt bei Jugendlichen sind, ist echt eine gute Frage! :D

Ich (16 Jahre alt) lese im Moment auch sehr gerne Dystopien. Mir gefallen Dystopien auch mehr als Utopien, warum? Ich weiß auch nicht genau, ich vermute es kommt einfach mehr Spannung auf bei einer "bösen/schlechten neuen Welt" als bei einer sich positiv entwickelten Gesellschaft. Meiner Meinung nach gibt es dann auch viel mehr Optionen zum Schreiben.

Ansonsten kann ich eigentlich gar nicht genau sagen, warum mir z.B. dieses Teil-Genre so gut gefällt, wahrscheinlich ist es einfach dieses Ungewisse der Zukunft. (Außerdem stehen meistens Jugendliche im Mittelpunkt, die sich gegen die Gesellschaft behaupten müssen, was auch ein Grund für das große Interesse sein kann.)

helene kommentierte am 05. Februar 2014 um 20:20

Vielen Dank für deine Ideen, das hat mir ein paar Denkanstöße gegeben..:)

Screnny kommentierte am 04. Februar 2014 um 09:23

Ich denke, dass Dystopien einfach so beliebt sind, weil sie einen zum Nachdenken bringen und eine gut gemachte Dystopie bringt aktuelle Themen mit hinein, frei nach dem Motto: es könnte alles so kommen, wenn wir als Gesellschaft nicht auf der Hut sind. Gerade in heutigen Zeiten ist das Thema Überwachung ein sehr wichtiges. Überwachung kann der erste Schritt zur Dystopie sein.

 

Buecherjunkies kommentierte am 04. Februar 2014 um 13:02

Ich finde ja interessant, dass hier einige schreiben, für sie wären Dystopien eine Untergattung von Fantasy. Also ich sehe das irgendwie anders. Fantasy beinhaltet meine Meinung nach doch im Normalfall Wesen, die es in unserer Welt nicht gibt (Feen, Elfen, Einhörner usw.). Dystopien hingegen zeigen ja ein Gesellschaftsbild auf, dass durchaus denkbar wäre. Deswegen passen die beiden Genre für mein Empfinden irgendwie nicht zusammen, oder?

Friedelchen kommentierte am 15. Februar 2014 um 13:12

Da stimme ich dir zu, für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe, genau wegen deiner Begründung :-)

coala kommentierte am 05. Februar 2014 um 15:25

Vielen vielen Dank für diesen wundervollen Artikel!!!

Ich finde es auch schrecklich, dass so ziemlich jedes Buch, vor allem im Jugendbuchbereich sehr gehypt.

Lerchie kommentierte am 06. Februar 2014 um 12:18

Ich habe das Wort Dystopie einmal als Düstere Utopie übersetzt. Warum? Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sich ein Land, oder die Welt einmal wirklich so zum Schlechten hin entwickelt. Es ist für mich also praktisch Utopie, und da sie ins Schlechte geht, eine düstere Utopie. Aber genau weil ich nicht glaube, dass es sich so entwickelt, ist es in gewissem Sinne auch Fantasy oder SF. Auch wenn wir mit Fantasy meist Elfen, Zwerge etc. verbinden. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren!

Lauritzel kommentierte am 07. Februar 2014 um 16:29

Ein sehr guter Artikel, vor allem, weil ich mir zur Zeit selber so viele Gedanken über den eigentlichen Gebrauch der Bezeichnung mache. Guter Schreibstil!

fraencisdaencis kommentierte am 27. März 2014 um 12:33

Danke für diesen gut aufgemachten und schlüssigen Artikel. Bisher habe ich nicht viele Dystopien gelesen und von daher hatte ich auch nicht unbedingt das Bedürfnis, das Genre besonders abzugrenzen. Dennoch ist diese detaillierte Definition sehr hilfreich.