Buch

Man lebt nur ewig - Jennifer Rardin

Man lebt nur ewig

von Jennifer Rardin

Du bist, was du fährst. Privat fahre ich ein generalüberholtes Corvette Sting Ray 327 Kabrio von 1965, das ich von meiner Großmama May geerbt habe, nachdem Pops Lew gestorben war. Er hat mir alles beigebracht, was ich über schnelle, starke Autos weiß. Wie man sie fährt, wie man dafür sorgt, dass sie gut laufen, wie man sie mit unerbittlicher Leidenschaft liebt.Es ist also vielleicht verständlich, dass ich momentan lieber in einen Abgrund gesprungen wäre und so meinem Leben ein vorzeitiges Ende gesetzt hätte, als auch nur eine Sekunde länger mit meinem Hintern auf dem Sitz eines 1993er Mopeds zu bleiben - auch wenn der Helm, den ich trug, mein Gesicht vollständig verbarg.Manchmal ist mein Job echt beschissen.Niemand hätte mir darin weniger zugestimmt als mein Moped-Kumpel Cole Bemont, der in gemessenem Tempo neben mir den Bay Trail entlangtuckerte und ein fröhliches Liedchen in sein Helmmikro summte, während er versuchte, nicht den nächsten verirrten Texaner zu rammen. Es schien fast so, als hätte die Hälfte der Einwohner von Corpus Christi an diesem milden, sonnigen Nachmittag unsere abenteuerlustigen Gedanken gelesen und sich gedacht: »Cool, warum stellen wir uns ihnen nicht in den Weg?«Skater, Fahrradfahrer und Angler wetteiferten um die besten Plätze auf dem breiten Asphaltstreifen, den wir uns mit Kinderwagen schiebenden Eltern und toben den Kindern teilten. Links von uns trennte eine strahlend weiße Kaimauer, die von einem einladenden kleinen Aussichtspunkt unterbrochen wurde, das Land vom Wasser - einem glitzernden blauen Zufluss zum Golf von Mexiko. Auf der rechten Seite führte ein grasbewachsener Abhang an einem verlassenen Konzertpavillon vorbei hinauf zu den Hotels, Restaurants und vereinzelten Nachtclubs. Der von Palmen gesäumte Parkplatz und der Jachthafen vor uns bildeten die Grenze zwischen normaler Erholung und Unterhaltung mit extra Spaßfaktor. Und da kamen wir ins Spiel.Wir hatten es auf uns genommen, das Corpus-Christi-Winterfestival zu erkunden, das hier gerade auf der zertrampelten Wiese aufgebaut wurde. Anschließend wollten wir unserem Boss Vayl von unseren Erkenntnissen berichten. Wenn er dann wieder auferstanden war. Also, quasi von den Toten. Er ist ein Vampir, einer aus der wachsenden Minderheit, die ein Teil der normalen Gesellschaft sein wollen, in guten wie in - was meist eher der Fall war - schlechten Zeiten.Jedenfalls hatten Cole und ich uns gedacht, dass es, da wir schon fast alle notwendigen Informationen über unsere Zielperson bekommen hatten, Spaß machen könnte und außerdem höchst professionell wäre herauszufinden, wo genau sich besagte Zielperson niederlassen wollte. Außerdem konnte es nicht schaden, sich einen Gesamtüberblick über das Festival zu verschaffen, da wir immerhin bald selbst zu den Attraktionen gehören würden.Wenige Minuten später erreichten wir das Festivalgelände. Hunderte von Roadies und Wohnmobilbesitzern wuselten herum und verliehen dem Ganzen eine erwartungsvolle Atmosphäre, während sie Spielbuden, Imbissstände und kleine Läden aufbauten, in denen man viel Geld in Tränke, Schmuckanhänger und Duftkerzen investieren konnte, die einen von verlorenen Geliebten träumen ließen. Als wir uns zwischen Zaubertischen und Schutzbuden hindurchschlängelten, sagte Cole plötzlich: »Versprich mir, dass wir noch da drüben vorbeischauen, bevor wir wieder verschwinden, Jasmine!«Er zeigte auf einen Stand, der laut dem fast ein Meter fünfzig großen Schild, das mit grell orangefarbenen Buchstaben beschriftet war, »Boogie Chickens« hieß. Glaubte man dem Kleingedruckten, so konnte man für nur einen Dollar zuschauen, wie vier Brahma-Hennen zu den Klassikern der Bee Gees tanzten.»Wir sollten sie für unser Vorprogramm engagieren«, meinte ich.»Würde nicht funktionieren«, erwiderte Cole. »Ich kenne diesen Blick bei Vayl. Von der Bauchtanznummer wird er sich nicht abbringen lassen.«Autsch.Vayl hatte nicht einmal versucht, es mir schonend beizubringen. Vor zwei Tagen hatte er es mir reingedrückt, während wir noch durch Indiana fuhren. Als ich ihn fragte, was unser Team denn beim Corpus-Christi-Winterfestival sollte, antwortete er: »Unsere Zielperson, sein Name ist Chien-Lung, führt eine Gruppe von chinesischen Akrobaten an, mit der er während der letzten Februarwoche Massen von Texanern unterhalten will. Da seine Sicherheitsmaßnahmen unglaublich ausgefeilt sind, können wir ihn am besten aus seinem Versteck locken, wenn wir selbst Teil des Festivals werden. Cassandra wird als Seherin und Tarotkartenlegerin unsere Hauptattraktion sein. Lung ist besessen von allem, was mit Sehern und Medien zu tun hat, und wird der Versuchung, sich ihre Show anzusehen, nicht widerstehen können. Bevor sie auf dieBühne kommt, werden wir seinen Appetit anregen, jeder mit seinen persönlichen Fähigkeiten. Cole wird jonglieren, ich werde singen, du wirst Bauchtanz machen, und Bergman kümmert sich um die Elektronik, inklusive Licht, Sound und Überwachung.«Abwehrend hob ich die Hände, als könnte ich die Bombe damit aufhalten. »Wow! Moment mal. Ich werde ganz bestimmt keinen Bauchtanz machen.«»Doch, wirst du. Das ist eine wundervolle, traditionsreiche Kunstform. Du solltest stolz darauf sein, sie der Welt vorzuführen.«»Aber ich beherrsche diese Kunstform nicht.«»Doch, du beherrschst sie. Das steht so in deiner Ak...«»Würdest du bitte aufhören, meine verdammte Akte zu lesen?!«Niemand hatte auch nur ein Wort gesagt. Es erinnerte mich an die Stimmung im Klassenzimmer, wenn der Lehrer durchgedreht ist und ein Lehrbuch aus dem Fenster geschmissen hat. Ich hatte mir kurz überlegt, ob ich auch auf diesem Weg verschwinden sollte, aber da wir uns gerade in einem gigantischen Wohnmobil mitten auf dem Highway befanden, kam mir diese Option doch etwas zu extrem vor.Das »Die-Show-muss-weitergehen«-Konzept erklärte, warum Cassandra bei uns war, die uns dabei geholfen hatte, das letzte Monster zu zähmen, dem wir begegnet waren, auch wenn die Tor-al-Degan sich fast meine Seele einverleibt hatte, bevor unsere schwarzhaarige Schönheit das Biest endlich zurück in die Sagenwelt befördert hatte, wo es hingehörte. Es erklärte allerdings nicht, warum Bergman dabei war. Eine familienfreundliche Unterhaltungsshow, wie Vayl sie mit uns auf die Bühne bringen wollte, brauchte keinen brillanten, neurotischen Erfinder, der sich um die Scheinwerfer und den CD-Player kümmerte. Aber dieses Rätsel würde ich mir für später aufsparen. Jetzt ging es um meine Integrität!»Bestimmt gibt es noch einen anderen, besseren Weg, um an diesen Chien-Lung ranzukommen«, sagte ich -sehr vernünftig, wie ich fand, wenn man bedachte, dass ich Vayl am liebsten die Augenbrauen ausgerissen und an die Oberlippe geklebt hätte.

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Fantasy
Sprache:
deutsch
Umfang:
413 Seiten
ISBN:
9783641037338
Erschienen:
November 2009
Verlag:
Heyne Verlag
Übersetzer:
Charlotte Lungstrass-Kapfer
7.5
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 3.8 (2 Bewertungen)

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