Buch

Nightshifted - Cassie Alexander

Nightshifted

von Cassie Alexander

1 Ich hatte in sechs Monaten sieben Kilo abgenommen. Als Krankenschwester geht man natürlich zuerst die schlimmsten Szenarien durch: Krebs, Diabetes, TBC. Nachdem ich mich nach verdächtigen Knoten abgesucht, meinen Blutzucker gemessen und meine Hustenanfälle gezählt hatte, blieb mir noch die wesentlich wahrscheinlichere Diagnose – Depression. Und die war der Grund, weshalb ich nun hier war – was sich ziemlich merkwürdig anfühlte. »Und ich kann Ihnen wirklich alles sagen?«, fragte ich, während ich der Psychologin gegenüber Platz nahm. »Natürlich können Sie das, Edie.« Sie schenkte mir ein beruhigendes Lächeln und zupfte ihren langen Rock zurecht. »Worüber möchten Sie denn sprechen?« Ich atmete ein paarmal tief durch. Es schien einfach keinen passenden Einstieg in meine Geschichte zu geben. Hi, ich habe früher Menschen verarztet, die von Vampiren gebissen wurden. Und ich bin nicht nur mit einem Zombie, sondern auch mit einem Werwolf ausgegangen. Ach, Sie wissen schon, das Übliche eben. Mit einem tiefen Seufzen gab ich zu: »Ich bin nicht ganz sicher, wie ich anfangen soll.« »Alles ist gut, solange Sie sich damit wohlfühlen. Manchmal braucht man ein paar Sitzungen, bis das Erzählen rundläuft.« »Wenn es nur so leicht wäre.« Sechs Monate waren eine lange Zeit – langsam sollte ich mal darüber hinwegkommen, dass ich gefeuert … na ja, geächtet worden war, aber es fühlte sich im Prinzip genauso an. Vielleicht hätte ich doch zulassen sollen, dass meine Erinnerungen ausgelöscht wurden; die Chance dazu hatte ich gehabt. War ja klar, dass ich mal wieder die falsche Entscheidung getroffen hatte. »Ich habe eine echt harte Zeit hinter mir.« »Inwiefern ?« »Ich hatte einen Job, der mir wirklich Spaß gemacht hat. Doch dann habe ich ihn verloren und musste mich neu orientieren. Seitdem kommt mir mein Leben vor wie …« Von Winterende bis heute, also Juli, hatte ich Vollzeit in der Nachtschicht einer Klinik für Schlafstörungen gearbeitet und schnarchende Patienten überwacht. Das war nicht nur langweilig – mein Teint war jetzt noch blasser, und mein Sozialleben gehörte endgültig der Vergangenheit an. Es entstand eine Pause, während der die Psychologin darauf wartete, dass ich den Satz beendete. Als ich beharrlich schwieg, füllte sie die Lücke: »Sprechen wir doch mal darüber, warum Ihnen ihr alter Job Spaß gemacht hat. Vielleicht können wir herausfiltern, was genau Ihnen Freude gemacht hat, und uns überlegen, wie Sie diese Dinge auf Ihre jetzige Situation übertragen können.« »Hm, meine Kollegen waren echt nett. Und die Arbeit war aufregend.« Ich kaute auf meiner Wange herum. »Und was genau war daran so aufregend?«, hakte sie nach, um mich zu ermutigen. Ich musterte sie, ihr nettes Büro, die nette Couch, das nette Regal voll netter Dinge. Das Leben als Psychologin musste wirklich nett sein. Mein Blick wanderte zurück zu ihrem Gesicht. Sie lächelte mich an, und plötzlich wurde mir bewusst, was für eine einmalige Gelegenheit sich mir bot. Alles, was zwischen uns ausgetauscht wurde, unterlag der ärztlichen Schweigepflicht. Als Krankenschwester wusste ich natürlich, dass auch die Grenzen hatte. Doch solange ich weder für mich noch für andere eine Gefahr darstellte, durfte sie nichts von dem, was ich ihr anvertraute, weitergeben. Außerdem würde sie mir ja sowieso nicht glauben. Ich beugte mich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Wie stehen Sie zum Thema Vampire?« Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte ihr Lächeln angespannt. »Als Psychologin ist es für mich wichtiger, zu wissen, was Sie denken – nicht andersherum. Also, sagen Sie mir, Edie: Wie stehen Sie zum Thema Vampire?« »Wenn ich Ihnen nun sagen würde, dass sie tatsächlich existieren …«, begann ich. Ihr Lächeln schien sich weiter zu verkrampfen. »Okay, lassen wir das ›wenn‹ und ›würde‹ weg. Ich werde Ihnen sagen, was ich denke: Sie existieren. Und da draußen laufen sogar ziemlich viele von ihnen herum. Außerdem haben sie menschliche Diener, einige für die Drecksarbeit und andere, von denen sie sich einfach nur Blut holen, wie von menschlichem Vieh.« Die Worte strömten nur so aus mir heraus. Ich wusste, dass ich eigentlich nichts davon erzählen durfte, und die Miene der armen Frau machte mir klar, dass sie es auch gar nicht hören wollte – aber es fühlte sich so gut an, endlich einmal mit jemandem darüber zu sprechen. Der Damm war gebrochen. Jetzt konnte ich nicht mehr auf hören. »Und außerdem gibt es in der Stadt auch Werwölfe. Früher waren es zwei große Rudel, aber jetzt ist es nur noch eines, und in den Vollmondnächten toben sie in den Parks in den Außenbezirken herum. Und die Zombies! Also, einmal bin ich sogar mit einem echten Zombie ausgegangen. Obwohl ich von Anfang an wusste, dass er ein Zombie ist, habe ich mich auf das Date eingelassen. Und jetzt raten Sie mal, woher ich das wusste – er hat es mir gesagt. Ich war eine Nacht lang seine Krankenschwester. In der Klinik, in der ich früher gearbeitet habe.« Ich ließ mich in diese unglaublich gemütliche Couch zurücksinken und drückte eine Hand auf die Brust. »Nicht zu fassen, dass ich Ihnen das alles erzählt habe. Das hat so gutgetan.« Als ich zu meiner Psychologin auf blickte, erkannte ich, dass mein Geständnis nur auf eine von uns eine positive Wirkung hatte. Noch immer verzerrte dieses angespannte Lächeln ihr Gesicht. »Und befehlen Ihnen die Vampire, dass Sie sich selbst verletzen sollen ?« Zumindest nicht in letzter Zeit! Am liebsten hätte ich mit einem Klugscheißerkommentar dieser Art geantwortet. Aber alles, was ich der Psychologin sagte, landete in einer Akte. Wenn ich sie schon als Zuhörerin missbrauchte, konnte ich die Sache zumindest ernst nehmen und höflich bleiben. »Nein. Und ich höre auch keine Stimmen in meinem Kopf.« Sie versuchte es anders: »Befehlen die Vampire Ihnen, andere zu verletzen?« Auch das nicht mehr! »Nein. Sie dürfen gar nicht mehr mit mir sprechen.« Ich registrierte ihren durchdringenden Blick, offenbar versuchte sie abzuwägen, wie es um meine geistige Gesundheit stand. Jetzt war der Moment gekommen, mich zusammenzureißen und zu lachen, als hätte ich ihr mit dieser Geschichte nur einen Streich spielen wollen. Ein irrer Scherz, war der nicht lustig? Oder aber ich erzählte weiter und soff ab wie ein Stein im Wasser – es zog mich sowieso regelmäßig in die Tiefe. Die meisten Menschen verfügen ja über eine Art eingebauten Selbsterhaltungstrieb; man könnte sagen, dass mir das nötige Gen dazu fehlte. »Eine Vampirin stand mir ziemlich nahe. Sie hat mich geächtet, um mich zu schützen, nachdem ich sämtliche Vampirblutvorräte des Landes vernichtet hatte. Dadurch habe ich sie gerettet, aber auch alles ruiniert.« Die Therapeutin atmete angestrengt ein und aus. »Mit fünfundzwanzig sind Sie eigentlich etwas zu alt für einen schizophrenen Schub, Edie. Aber offenbar wird es Zeit für eine Realitätsprüfung.« Realitätsprüfung. Als wäre das, was mir im vergangenen Winter passiert war, nicht real gewesen. Ich starrte auf den gemusterten Teppich. »Genau das ist es ja. Es war alles real. Jede Kleinigkeit. Aber ich kann mit niemandem darüber sprechen. Wissen Sie, was mit Ihnen passieren wird, sobald ich den Raum verlasse? Falls Sie mir überhaupt glauben?« »Nein.« Sie sah aus, als hätte sie ein extrem saures Bonbon verschluckt. »Warum erzählen Sie es mir nicht einfach?« »Die Schatten steigen aus dem Boden auf und löschen alles, was ich gesagt habe, aus Ihrem Gedächtnis. Vielleicht können Sie sich dann nicht einmal mehr an mich erinnern.« Frustriert bohrte ich einen Zeh in den weichen Flor. »Edie, wie lange leiden Sie schon unter diesen Wahnvorstellungen ?« Ich antwortete nicht. »Ich weiß, dass Sie Krankenschwester sind, und ich würde Ihnen nur höchst ungern Medikamente verschreiben, aber mein Kollege nebenan – er ist Psychiater. Wir können zusammen zu ihm gehen. Wenn er sie als Notfallpatient dazwischennimmt, können Sie sofort ein Rezept bekommen. Risperdal soll ja wahre Wunder wirken.« »Risperdal?« Verstört blickte ich hoch. Ja, ich war verrückt … aber doch nicht irre. »Nein.« »Edie …«, drängte sie mit gedämpfter Stimme. Ich griff nach meiner Handtasche und stand auf. »Sie werden sich doch nichts antun, oder?« »Solange ich hier rauskomme, nicht«, antwortete ich und zog die Tür hinter mir zu. Während meiner Ausbildung hatte ich auch in der Psychiatrie gearbeitet. Die Krankenschwester, der ich dort zugeteilt gewesen war, hatte mit Risperdal versetztes Popcorn in die Mikrowelle geschoben, das wir dann aus einer unbenutzten Plastikbettpfanne gegessen hatten. Es war damals schon völlig daneben gewesen, sich auf die Werbesprüche der Pharmaindustrie einzulassen, auch wenn es nur zum Spaß war; und natürlich auch, aus Bettpfannen zu essen, als wären es Müslischüsseln. Nach diesem Erlebnis hatte ich immer darauf geachtet, mein eigenes Plastikgeschirr mitzubringen, und meinen Kontakt mit Pharmaprodukten auf die Benutzung der diversen Kugelschreiber beschränkt, die das Medikament des Monats anpriesen. Und auf keinen Fall wollte ich ein solches Medikament des Monats nehmen. Natürlich wusste ich, dass Pharmazeutika helfen konnten – in manchen Fällen waren sie bei Depressionen sogar überlebenswichtig. Doch angesichts meiner Situation waren meine Probleme irgendwie … verdreht. Eigentlich könnte man meinen, der Stressfaktor eines Jobs, bei dem man es mit Vampiren und Formwandlern zu tun bekam, hätte mir den Rest gegeben, aber nein, meine Depressionen kamen erst danach, pünktlich zum Frühlingsbeginn. Auf der Heimfahrt kurbelte ich die Fenster meines Autos herunter, in der Hoffnung, dass ich mich durch den Fahrtwind im Gesicht ein wenig lebendiger fühlen würde. Es funktionierte – zumindest, bis mich der Gedanke einholte, dass ich an diesem Abend Schicht hatte. Mein Magen verkrampfte sich, und ich zählte eins und eins zusammen. Die Arbeit in der Schlaf klinik machte mich krank. Man kann einfach nicht jede Nacht über einen Videomonitor anderen beim Schlafen zusehen und dabei geistig gesund bleiben. Nach zwei Jahren Erfahrung auf der Intensivstation hatte ich die letzten sechs Monate damit verbracht, schlafende Menschen zu beobachten und ihrem Geschnarche zu lauschen. Das war ungefähr so, als würde ein Pilot von einem Kampfjet auf ein Modellflugzeug umsteigen – und zwar auf ein langweiliges, selbst zusammengebautes, das in Spielzeuggeschäften von der Decke hängt. Mein Handy klingelte. Als ich das Foto meiner Mutter sah, ging ich ran, auch wenn das im Auto eigentlich verboten war. »Hey, Mom.« »Hallo, Edie! Könntest du kurz vorbeikommen?« Da ich schon mein Leben lang die Tochter meiner Mutter war, hörte ich an ihrer Stimme, dass irgendetwas im Argen lag. »Äh, klar doch. Warum?« Sie versuchte, mich abzulenken. »Du fährst doch nicht etwa Auto und telefonierst dabei, oder?« »Nein«, log ich. »Was ist denn los?« »Nichts … ich wollte nur …« Sie zögerte. Meine Mutter hatte so einige Talente, aber Lügen gehörte nicht dazu. Während ich schweigend wartete, listete mein Gehirn alle Katastrophen auf, die infrage kamen. Die Aufzählung war kürzer als noch vor einem halben Jahr, da die übernatürliche Gemeinde mich inzwischen ja ächtete. Wenn meine Mutter mich damals mit diesem Ton in der Stimme angerufen hätte, wäre ich wahrscheinlich in Panik ausgebrochen und hätte die Polizei gerufen – auch wenn das wohl ziemlich wenig Sinn gemacht hätte. Gott sei Dank hatte Mom damals nicht gewusst, wo genau ich arbeitete, mit wem ich meine Zeit verbrachte und was ich insgesamt so trieb. Jetzt nahm mein Bruder ganz klar den ersten Platz auf meiner Gründe-warum-meine-Mutter-mich-mitten-am-Tag-anruft-Liste ein. Während meiner Zeit am County hatte ich Jake eine kurze Verschnaufpause von seiner Heroinsucht verschafft. Solange ich dort angestellt war, hatten die Schatten ihre seltsame Magie gewirkt und ihn gegen die Wirkung der Droge immunisiert, sodass er nichts mehr spürte, ganz egal, wie viel Heroin er sich in den Körper pumpte. Bis zu meiner Ächtung war er also clean geblieben, doch dann nahm seine Immunität ein abruptes Ende. Und natürlich war Jake wenig später wieder voll drauf. Inzwischen versuchte ich, möglichst wenig an ihn zu denken. Das machte mich nur traurig. Ich hielt an einer roten Ampel, während es in der Leitung weiter still blieb. »Na ja, ich habe eine schlechte Nachricht bekommen«, fuhr meine Mutter schließlich fort. »Du bist doch rechts rangefahren, oder?« »Natürlich«, log ich weiter. Was auch immer es war, das klang übel. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Jake, tot in der Gosse aufgefunden. Das Bild schoss mir sofort in den Kopf, gefolgt von Trauer und schuldbewusster Erleichterung. »Gut, also dann: Ich habe Krebs«, erklärte sie sachlich. »Was?« Der Wagen hinter mir begann zu hupen. Ich sah hoch. Die Ampel hatte umgeschaltet. »Was – wo?« »Ich dachte mir, vielleicht kannst du ja herkommen und mit Peter und mir zu Abend essen? Dann könnten wir alles besprechen.« Das Hupen wurde lauter. Alles besprechen, klar doch. Aber bis zum Abendessen warten? Keine Chance. »Ich komme jetzt gleich, Mom.« Wenigstens versuchte sie nicht, es mir auszureden. »Das klingt gut, Liebes. Dann bis gleich.« Während meines gesamten Lebens war meine Mutter immer mein Fels in der Brandung gewesen. Meine Kindheit war zwar ziemlich chaotisch abgelaufen, und als Teenager hatte ich ihr das auch übel genommen, aber nun als Erwachsene war mir bewusst geworden, dass auch sie nur ein Mensch war und immer ihr Bestes gegeben hatte. Dass sie nicht unfehlbar war, sorgte nur dafür, dass ich sie noch mehr liebte. Ich durfte sie einfach nicht verlieren! Mein Herz raste, und ich fühlte mich, als hätte mir jemand in den Magen geschlagen. Obwohl die Ampel wieder rot war, fuhr ich los, bog in die nächste Seitenstraße ein und hielt an, um mich zu sammeln. Auf dem Display des Handys leuchtete noch immer Moms Foto. Es war ganz verschwommen. Hektisch rieb ich mit dem Daumen darüber, bis ich erkannte, dass es nicht die Tagescreme von meiner Wange war, die das Bild verschmierte. Ich weinte. Angestrengt atmete ich ein und schluckte die Tränen hinunter. Nein, noch nicht. Zuerst musste ich herausfinden, wie schlimm es eigentlich war. Es gab unglaublich viele verschiedene Krebsarten, fast schon Tausende. Und es konnte schließlich gut sein, dass es sich bei ihr nur um eine leichte Form handelte, richtig? Da konnten die Ärzte jede Menge tun: Chemo, Bestrahlung, Operation. Meine Mom war stark, sie konnte es schaffen. Immerhin bekam sie jede Menge Unterstützung, von ihrer Kirchengruppe, ihrem Mann und von mir. Aber vielleicht ist das nicht genug, flüsterte eine kleine, verängstigte Stimme in meinem Inneren. Wer wüsste besser als eine Krankenschwester, dass manchmal auch die Guten sterben, Therapien und gute Absichten hin oder her? Ich aktivierte die Tastensperre des Handys und legte es vorsichtig auf den Beifahrersitz, damit ich nicht der Versuchung erlag, es vor Frust aus dem Fenster zu schleudern. Bis vor Kurzem hatte ich Wesen gekannt, die – falls sie nicht mit Weihwasser duschten oder aus Versehen in einen Holzpfahl stürzten – ewig lebten. Wenn es sein musste, würde ich dafür sorgen, dass sie auch meiner Mom ewiges Leben verschafften.2 Ich mied den Highway, denn dort wäre ich auf dem Weg zu Mom nur viel zu schnell gefahren und hätte dabei andere Autofahrer bedrängt. Aber jeder Stopp auf den Nebenstraßen kam mir vor wie ein persönlicher Angriff – und als würden mir alle, die in der Rushhour versuchten, gleichzeitig nach Hause zu kommen, absichtlich den Weg versperren. Irgendwann kurbelte ich die Fenster hoch, damit die Leute nicht hörten, wie ich sie beschimpfte. Als ich das Haus meiner Mutter erreichte, war ich heiser, aber die Erschöpfung fühlte sich gut an. Ich blieb noch einen Moment sitzen, damit ich etwas gefasster wirkte, dann schob ich das Handy in die Handtasche und ging zur Tür. Sie war verschlossen. »Verdammte Sch…« Ich klopfte. Mann! Sie wussten doch, dass ich auf dem Weg zu ihnen war. Peter öffnete mir. »Bitte entschuldige die Umstände, aber wir haben auch Jake angerufen.« Ich konnte verstehen, dass mein Stiefvater erst sehen wollte, in welcher Verfassung Jake war, bevor er ihn reinließ. »Tja, mit dem Bus braucht er wesentlich länger hierher.« Falls mein Bruder überhaupt genug Geld für den Bus hatte. »Edie … das Abendessen ist noch nicht fertig«, rief meine Mutter entschuldigend aus der Küche herüber. Ich stellte meine Tasche ab, zog die Schuhe aus und ging zu ihr. »Ich habe gar keinen Hunger, Mom. Erzähl mir alles, sofort.« »Na ja …« Ihr Blick huschte zu Peter, wie um ihn wortlos um Erlaubnis zu bitten. So etwas hätte ich nie getan; es weckte in mir den Impuls, meine Mutter zu schütteln. Aber so war sie nun einmal – und sie würde sich auch nicht mehr ändern. »Es ist Brustkrebs, im vierten Stadium. Ich weiß es schon eine Weile …« »Das soll wohl ein Witz sein«, rief ich wütend. Peter trat vor und wedelte beschwichtigend mit den Händen. Seit Weihnachten hatten wir uns nur zwei- oder dreimal gesehen, aber mindestens einmal pro Woche telefoniert. Mom schien bei diesen Gelegenheiten zwar nicht ganz auf der Höhe zu sein, wirkte aber nicht wirklich krank. Oder zumindest nicht krebskrank. Ich war davon ausgegangen, dass sie deprimiert war wegen Jake. »Warum hast du denn nichts gesagt ?« »Du hast immer so traurig gewirkt, Edie. Ich dachte eben, es ginge dir genauso wie mir, dass dich die Sache mit Jake belastet.« Nein, Jake hatte ich abgeschrieben. Das war etwas ganz anderes als eine Belastung. »Mom … wie schlimm ist es?« »Weißt du, die Ärzte haben wirklich alles versucht, um es in den Griff zu bekommen. Aber anscheinend gelingt ihnen das nicht. Wir haben es zu spät entdeckt. Die Chemo wirkt nicht, jetzt ist die Leber auch noch betroffen, und der Krebs ist inoperabel. Mir bleiben noch ein paar Monate, vielleicht sogar ein Jahr, aber …« »Das ist nicht wahr«, unterbrach ich sie und sah zu Peter hinüber, der mir bestätigte, was sie da sagte, indem er meinem Blick auswich. »Nein, das kann nicht sein, die Ärzte irren sich.« Ich rannte zu meiner Handtasche und kam mit Notizblock und Stift in der Hand zurück. »Okay, sag mir ihre Namen. Ich werde mich nach ihnen erkundigen, mal sehen, ob die wirklich so gut sind – obwohl ich dir jetzt schon sagen kann, dass sie das nicht sind. Und dann suchen wir dir neue Ärzte. Bessere. Die Besten, die allerbesten Ärzte, die es gibt.« »Edie …« Scheinbar arglos stand meine Mutter hinter ihrer Kücheninsel. Im Schein der Deckenlampe glänzten die Haare auf ihrem Kopf, die, wie ich jetzt vermutete, wohl zu einer Perücke gehörten. »So läuft das nicht.« »Du irrst dich.« Hätte es irgendeine Möglichkeit gegeben, mich in ihren Körper einzuschleusen und jede Krebszelle einzeln abzumurksen, hätte ich es getan. »Es geht auch um die Lebensqualität, Edie«, setzte sie an. »Du bist doch Krankenschwester, du solltest wissen, was diese Diagnose bedeutet«, ergänzte Peter aus seiner Ecke. Ich wirbelte zu ihm herum. Mir war egal, was er dazu zu sagen hatte. Vielleicht hatte er sie mit HPV angesteckt, die das Wachstum der Krebszellen beschleunigten. Oder es hatte mit der Haut angefangen, indem diese ganzen Floridareisen im Winter, zu denen er sie immer nötigte, den Auslöser darstellten. Mir war klar, dass meine Überlegungen leicht irrational wurden, aber das war immer noch besser, als der Realität ins Auge zu blicken. »Ich möchte, dass du meine Wünsche respektierst, Edie.« Sie trat hinter dem Tresen hervor, sodass ich sie nun ganz sehen konnte. Die Kleidung hing schlaff an ihrem Körper herab. Wann war das denn passiert? Wie hatte ich nur so blind sein können? Verdammt noch mal, ich war Krankenschwester. Doch sie war eben keiner meiner Patienten. Sie war meine Mom. »Ich will aber kämpfen!« Verzweifelt schlug ich mir mit der Faust gegen die Brust. »Das war schon immer dein Problem, Liebes.« Meine Mutter lächelte mich traurig an. »Du weißt nicht, wie es ist, nicht zu kämpfen.« Während des Abendessens legte ich es darauf an, Mom zu verdeutlichen, dass ihr Weg der falsche war. Als könnte ich ihr, indem ich mich bis zum Dessert zusammenriss und zur Abwechslung mal nicht explodierte, beweisen, dass sie ihre Meinung ändern musste. Verbissen stopfte ich das Essen in mich hinein, schluckte halb gekaute Bissen und spürte, wie das trockene Hühnerfleisch an meiner Speiseröhre klebte – während mir gleichzeitig deutlich bewusst wurde, dass Mom viel weniger aß als früher. Mein einziger Trost bestand darin (nein, eigentlich war es keiner), dass ich zur Stelle sein würde, wenn Jake seinen verfluchten Arsch hierherbewegte. Vielleicht war er bei dieser Sache ja auf meiner Seite, dann könnten wir Mom gemeinsam dazu überreden, nicht einfach aufzugeben. Aber vielleicht lebten ja auch kleine grüne Männchen auf dem Mond. Wahrscheinlicher war, dass Jake es kaum abwarten konnte, bis sie starb, damit er an sein Erbe herankam und es sich in den Arm spritzen konnte. Frustriert spießte ich das nächste Stück Huhn auf mein Messer. Nach dem Essen setzten wir uns ins Wohnzimmer und redeten. Wie sich herausstellte, ist Krebs ein höchst vereinnahmendes Thema: Man hat den Kopf für nichts anderes mehr frei. Denn Mom erzählte mir von dem Missionsprojekt ihrer Kirchengemeinde, irgendwo in Mexiko, und ich hörte ihr zu, ohne wirklich dabei zu sein. Es wurde spät, und als Jake endgültig nicht auftauchte, verabschiedete ich mich schließlich ohne eine Träne zu vergießen. Denn zu weinen hätte bedeutet, dass alles verloren war. Aber wenn ich weiterhin stark blieb, konnte ich auch meine Mutter vielleicht dazu zwingen, stark zu bleiben. »Wir sollten mehr Zeit miteinander verbringen, Edie«, sagte Mom sanft, als ich gebückt die Arme um sie schlang, damit sie nicht vom Sofa aufstehen musste. Ich versuchte zu verdrängen, wie schwach ihre Umarmung war. »Ich komme morgen wieder vorbei«, versprach ich, als Peter mich zur Tür brachte. »Sie ist in letzter Zeit immer so müde und braucht viel Ruhe«, erklärte er mir, sobald wir den Flur erreicht hatten. Ich schlüpfte in meine Schuhe und griff nach der Handtasche. Doch bevor ich durch die Haustür schlüpfen konnte, stellte sich Peter mir in den Weg und sah mich durchdringend an. Ich wusste, was er mir damit zu sagen versuchte: Denken konnte ich mir, was ich wollte, aber ihm wäre es lieber, wenn ich meine Meinung für mich behielt. Zwischen Peter und mir herrschte nicht immer Einigkeit – doch bis zu diesem Moment war ich immer felsenfest davon überzeugt gewesen, dass er für meine Mutter nur das Beste wollte. Aber wenn er glaubte, ich würde ihr Schicksal einfach so hinnehmen … Die tiefen Schatten, die unter den Augen meiner Mutter lagen, waren auch in Peters Gesicht zu sehen. Am liebsten hätte ich so getan, als wären sie nicht da, damit ich wütend auf ihn sein konnte. Doch jetzt fragte ich mich, wie viele Nächte er wach gelegen hatte, wie oft er auf der Toilette neben ihr kniete, wie viele Haarbüschel er schon auf dem Kopf kissen neben sich gefunden hatte. Ich rief das Kleinkind in mir zurück zur Ordnung und wurde wieder zu einer erwachsenen Krankenschwester. Richtete mich auf, überließ ihr das Kommando. »Ich werde alle paar Tage vorbeikommen, damit es nicht zu anstrengend für sie wird. Lass es mich wissen, wenn du mal eine Auszeit brauchst.« Mit einem drohenden Schritt in seine Richtung starrte ich ihn an. »Und ab jetzt informierst du mich, wenn irgendwelche Veränderungen eintreten – sonst würde ich mir das nie verzeihen, und dir auch nicht.« Er nickte grimmig, dann öffnete er die Haustür und ließ mich gehen. Vollkommen gefasst fuhr ich los. Ich rammte weder Briefkästen noch Laternenmasten. Als ich zwei Straßen weiter dann aber fast gegen eine Mülltonne geknallt wäre, hielt ich vorsichtshalber an. Jetzt durfte ich weinen. Dicke Tränen quollen aus meinen Augen, und da ich keine Taschentücher im Wagen hatte, musste ich mir mit dem Saum meines Shirts den Rotz aus dem Gesicht wischen. Das sah bestimmt hinreißend aus, wie ich abwechselnd vor Verzweiflung fast erstickte und meinen bleichen Bauch entblößte. Eine Viertelstunde später war mein Heulanfall vorbei, und auch wenn ich jetzt vollends erschöpft war, wusste ich, dass ich sicher auf den Highway fahren konnte. Der Teil meines Verstandes, der nicht vor Schmerz fast verrückt wurde, begann Berechnungen anzustellen. Die Situation wäre viel einfacher gewesen, wenn ich im Dezember nicht sämtliche Vampirblutvorräte des County vernichtet hätte. Denn hätte ich das nicht getan, könnte ich jetzt einfach bei der Arbeit ein wenig Vampirblut abzweigen oder vor dem Transfusionslabor jemandem auflauern und ihn mit einem Karateschlag oder sonst etwas außer Gefecht setzen, damit ich ihm die Blutkonserve stehlen konnte. Aber weil ich vor sieben Monaten die Feiertage damit verbracht hatte, alles zu ruinieren, wusste ich jetzt nicht einmal, ob das Labor überhaupt noch benutzt wurde. Ohne es zu bemerken – vielleicht, weil ich so mit Pläneschmieden beschäftigt war –, nahm ich wie gewohnt die Ausfahrt zum County Hospital. In mir regte sich keinerlei Widerspruch, nicht einmal, als ich mir einen Parkplatz suchte. Bis ich den gefunden hatte, dauerte es eine Weile, da am frühen Abend immer Hauptbesuchszeit war, was aber auch ein Vorteil sein konnte, da ich mich dadurch leichter reinschmuggeln konnte. Ich wusste, dass der Zugang zu allen Intensivstationen gesperrt war, ohne Dienstausweis gab es kein Durchkommen. Aber Y4, die Station, auf der übernatürliche Patienten behandelt wurden, verfügte über eine weitere Sicherung – und zwar einen Aufzug. Ich schlich durch die Flure und Treppenhäuser, bis ich vor der orangefarbenen Fahrstuhltür landete. Ein seltsames Gefühl, hier ohne Arbeitskleidung zu stehen. Alles der Reihe nach. Ich kramte in meiner Handtasche, bis ich meinen alten Dienstausweis fand. Obwohl ich nicht glaubte, dass er noch irgendwie von Nutzen sein könnte, trug ich ihn weiter bei mir. Sollte ich allerdings einem meiner alten »Freunde« begegnen, war ich sowieso tot, bevor ich mit dem abgelaufenen Ausweis wedeln konnte. Aber der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Ich hielt die Karte vor das Lesegerät des Aufzugs. Das Lämpchen leuchtete nicht auf. Ganz langsam zog ich ihn noch einmal darüber. Kein Glück. Plan B – ein Tritt gegen die Tür. »Hey!« Meine Stimme hallte durch den Flur. Ich wusste nicht, was sich sonst noch auf diesem Gang befand; während meiner Zeit hier hatte ich mich nie umgesehen. Jetzt fragte ich mich, wie weit wohl der nächste Securityposten entfernt war. »Hey!«, rief ich wieder, diesmal energischer, und rammte eine Faust gegen die Tür. Normalerweise brauchte man auf Y4 keine Sicherheitsleute – es gab schließlich die Schatten. Diese gruseligen, teerartigen Gebilde lebten tief in der Erde unterhalb des Krankenhauses und ernährten sich von den Schmerzen, die sich hier sammelten. Sie überwachten die Gäste auf Y4 und behielten auch diesen Fahrstuhl im Auge. »Kommt schon …« Ich spähte zu den Schallschutzplatten an der Decke hinauf. Dort oben gab es jede Menge Spalten, in denen sie sich verstecken konnten. »Ich weiß, dass ihr mich sehen könnt. Und dass ihr genau wisst, wer ich bin.« Die Schatten löschten das Gedächtnis aller, die etwas zu sehen bekamen, was sie eigentlich nicht sehen durften. Als ich ging, hatten sie mir angeboten, auch eine solche Gehirnwäsche verpasst zu bekommen. »Bitte, es ist wichtig …« Sie waren es auch gewesen, die mir den Handel angeboten hatten, die Sache mit meinem Bruder ins Lot zu bringen, wenn ich im Gegenzug auf Y4 arbeitete. Und ich wusste, dass sie mit den anderen Mitarbeitern auf der Station ganz ähnliche Deals hatten. Schweigen. Vielleicht waren sie ja nicht mehr da. Vielleicht wurden sie gerade bestraft. Schon einmal hatten sie Y4 im Stich gelassen, um eine Gefangene zu verfolgen, die ihnen entwischt war. Und während ihrer Abwesenheit konnte ich die Blutvorräte vernichten, da sie sonst gestohlen worden wären. Es war wie im Krieg gewesen … damals erschien es mir ganz logisch. Aber hätte ich gewusst, dass ich mit dieser Aktion das Todesurteil meiner Mom unterzeichnete … Wütend wedelte ich mit dem Ausweis vor dem Sensor herum. »Lasst mich rein!« »Warum?« Über meinem Kopf verdichtete sich die Dunkelheit zu einer Art winzigem Wirbelsturm. Dieser Anblick weckte böse Erinnerungen. »Ich muss da rein. Ich will meinen alten Job wiederhaben.« Vorsichtig trat ich einen Schritt zurück; ich wollte nicht, dass sie mich berührten – ergossen sie sich einmal über mich, wüssten sie innerhalb weniger Sekunden alles, was in mir vorging. Außerdem hatten sie immer noch die Macht, Teile meiner Erinnerung auszulöschen.

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
352 Seiten
ISBN:
9783492961417
Erschienen:
Dezember 2012
Verlag:
Piper ebooks
Übersetzer:
Charlotte Lungstraß
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