Rezension

Zwei Frauenleben – aufrüttelnd und beeindruckend

Die Wunder
von Elena Medel

Bewertet mit 5 Sternen

Obwohl Maria ihre Großmutter ist, konnte Alicia diese noch nicht kennenlernen. Aus Schande über ein uneheliches Kind ließ Maria ihre Tochter Ende der Sechziger Jahre bei ihrer Familie zurück und lebte seither als Hausangestellte in Madrid, von wo aus sie sich nur durch Geld an der Erziehung des Kindes beteiligte. Auch die Enkelin Alicia flieht aus innerer Unruhe und einer familiären Tragödie in die spanische Hauptstadt. Beiden fehlt es sowohl an Geld als auch an Selbstvertrauen; aber auch am Vertrauen in ihr Heimatland und dessen Veränderungen.
Das Cover zeigt in ruhigem, unaufgeregtem Braun das Gesicht einer jungen Frau, im unteren Viertel Frauen bei einem Protestmarsch. Die Kapitel erzählen verschiedene Zeitabschnitte aus dem Leben von María und Alicia, wobei innerhalb der Kapitel auch abwechselnd von Großmutter und Enkelin berichtet wird. Der Schreibstil ist zunächst gewöhnungsbedürftig; Dialoge sind nicht als solche abgegrenzt, sondern fließen ohne Anführungszeichen in den Text ein. Einige Stellen werden in erster Person von den Frauen, andere aus der Sicht eines Erzählers wiedergegeben. Getrieben, fast hektisch treiben die Wörter die Handlung voran. Doch je mehr man in dieser vorankommt, desto fesselnder wird die Geschichte und man erkennt, dass der Schreibstil für dieses Buch nicht passender sein könnte; vor allem jedoch für die Gedanken der Protagonistinnen, die sich an manchen Stellen förmlich zu überschlagen scheinen.
Elena Medel gelingt mit ihrem Debüt ein großartiger Bildungsroman, der einen genauen Blick auf das Leben und die Stellung – nicht nur – der spanischen Frauen wirft. Sie verfährt dabei aber nicht mit militant-feministischen Parolen, sondern wagt sich sehr gefühlvoll an das Thema heran. Anhand der Protagonistinnen Maria und Alicia erörtert sie, wie unterschiedlich sich Bildung, soziale Herkunft und auch Geld auf Frauen verschiedener Generationen auswirken. Dazu beleuchtet sie auch die politischen Ereignisse Spaniens, die gekonnt mit dem Leben der beiden Frauen verwoben werden. Maria versucht seit ihrer Jugend sich ihre Freiheit zu erkämpfen – etwas anderes bleibt ihr auch nicht übrig. Alicia hätte durch ihre Ausbildung die Möglichkeit, viel mehr aus ihrem Leben zu machen – und verharrt dennoch in ihrer Verschlossenheit. 
Die Autorin behandelt in diesem aufrüttelnden Roman die Macht der Männer, die Stellung der Familie und vor allem der Mütter, aber auch die damit zusammenhängende Situation der Frauen und deren Versuch, Freiheiten zu erlangen; es geht um Rechte und Pflichten, und um Stolz, aber vor allem auch um den Mangel an verschiedenen Dingen – allen voran um den Mangel an Geld, mit dessen Vorhandensein die Frauen Emanzipation und Befreiung zu erlangen glauben.