Rezension

»Wir sind nicht, was die anderen denken.«

Über Menschen
von Juli Zeh

Bewertet mit 5 Sternen

Was ist es, das Dora zu ihrer Flucht ins kleine brandenburgische Kaff Bracken, getrieben hat? Ist es ihre zerrüttete Beziehung zu Robert, der sich immer weiter von ihr zu entfernen scheint seit die Corona-Pandemie nicht mehr nur eine kleine Schlagzeile in der Zeitung ist? Oder ist es einfach nur der nächste logische Schritt für die Werbetexterin, die in ihrem Tun nicht systemrelevant ist und das ja dann auch von überall her sein kann? Eine Flucht aus dem Hamsterrad – ein Reset – der vor dem Ausbrennen retten und gleichzeitig die Kraft zum Weitermachen liefern soll. Kann sie es überhaupt mit sich allein aushalten? 

»Sie muss ihre Gedanken beruhigen, die mal wieder tun, was sie wollen. Dora kann sie hundertmal zur Ordnung rufen, sie entwischen trotzdem, greifen nach ihren Lieblingsspielzeugen und veranstalten in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander.«

Auf der Suche nach einer Antwort kehrt Dora der Großstadt Berlin den Rücken und zieht mit ihrer Hündin »Jochen-der-Rochen« in ein altes Gutsverwalterhaus in die Provinz. Und tatsächlich gelingt es Dora, sich allmählich zu entschleunigen, ihr Gedankenkarussell abzubremsen, und das obwohl ihr neues Landhausleben sie vor Probleme ganz anderer Art stellt. Eines davon ist ihr Nachbar Gote, der sich als »Dorfnazi« vorstellt und kein Problem damit hat, das Horst-Wessel-Lied gemeinsam mit Saufkumpanen zu trällern.

»In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen.«

Das hat Dora nicht kommen sehen und sie muss lernen damit umzugehen, dass ihr eben dieser Nachbar unaufgefordert ein Bett zimmert, Küchenstühle spendiert und die Wände streicht. Ihr Weltbild gerät ordentlich ins Wanken, Schubladendenken in Schwarz-Weiß geht nun nicht mehr. Was tun?

»Weitermachen ist die einzig sinnvolle Antwort auf das Weitergehen. Die einzige Chance auf Anpassung an das Ungeheuerliche.«

Und das tut Dora und wir, die Leser, mit ihr. Für mich eine wahrhaft erhellende Reise, die mich gefesselt und bewegt hat. Juli Zeh versteht es mit prägnanten Sätzen und beinahe minimalistischer Sprache genau ins Schwarze zu treffen. Dabei gibt sie kein Denkmuster vor, sondern lässt ihre Protagonistin selbst herausfinden, was richtig oder falsch ist. Oder gibt es überhaupt das Eine ODER das Andere? Ihre Figuren sind menschlich, fehlerbehaftet – eben keine Übermenschen, was es dem Leser leicht macht, sich in die Charaktere einzufühlen. Dabei geht es primär nicht darum, Positionen einzunehmen, Klischees zu stützen oder zu stürzen, sondern vielmehr darum, das eigene Denken, die eigenen Ansichten zu hinterfragen. Komplexität ist ein Schlüsselwort, das auf die Menschen zutrifft – egal wo sie leben. Das Zusammenleben selbst ist sogar noch komplexer, oft auch komplizierter. Sich dieser Herausforderung zu stellen und dabei sich selbst nicht zu verlieren, ist wohl eine (Über)Lebensaufgabe.

Fazit

»Über Menschen« ist ebenso wie »Unterleuten« ein großartiger Roman, der leicht unterhält und schwer nachhallt. Ein Highlight, das ich persönlich uneingeschränkt empfehlen kann.