Rezension

Wie gut kennen wir unseren Nächsten?

Die Enkelin -

Die Enkelin
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 4 Sternen

 

Als der Buchhändler Kaspar Wettner, 71 eines Abends aus der Buchhandlung nach Hause zurückkehrt, findet er seine Ehefrau Birgit tot in der Badewanne. Sie war depressiv und alkoholabhängig, aber es lässt sich nicht sagen, ob ihr Tod Selbstmord oder ein Unfall war. Einige Zeit später liest er auf der Suche nach einem angefangenen Romanmanuskript ihre tagebuchartigen Aufzeichnungen und erfährt auf diese Weise vieles, was er nicht wusste. Ihm war immer bewusst, dass er Birgit mehr liebte als sie ihn und dass sie sich ihm nie wirklich geöffnet hat. Kaspar hatte Birgit 1964 in Ost-Berlin kennengelernt und ihr ein Jahr später zur Flucht in den Westen verholfen. Er wusste nicht, dass sie von dem verheirateten Leo Weise schwanger war, der das Kind mit seiner Frau Irma aufziehen wollte. Birgits Freundin Paula sollte den Säugling an einer Kirche oder vor einem Heim aussetzen. Tatsächlich hat sie das Mädchen jedoch zu den Weises gebracht. Aus den Aufzeichnungen seiner Frau erfährt der Witwer, dass Birgit die Tochter suchen wollte, es aber nie gewagt hat. Kaspar will anstelle seiner Frau die Tochter suchen.

Mit Hilfe von Paula findet er Svenja, die mit Björn verheiratet ist und einen Bauernhof bewirtschaftet, und er lernt deren 14jährige Tochter Sigrun kennen. Kaspar stellt den Kontakt zur Enkelin mit Hilfe von großzügigen finanziellen Zuwendungen für den Vater her. Schon bald empfindet er große Zuneigung für Sigrun. Die größte Schwierigkeit für ihn besteht in der rechten Gesinnung dieser Familie, die in einer völkischen Gemeinschaft lebt und in der Beachtung von Traditionen, in Kleidung und Sprache den Nationalsozialismus fortleben lässt. Um Sigrun eine andere Perspektive zu bieten, ohne belehrend zu wirken, macht er sie mit Musik und Kunst bekannt und bezahlt ihr Klavierunterricht. Mit dem Vater Björn gibt es immer wieder Zusammenstöße, gefolgt von einem zweijährigen Kontaktverbot, bevor Sigrun selbst bereit ist, eigene Wege zu gehen – auch gegen den Willen der Eltern.

Schlink hat einen sehr lesbaren, auch sprachlich eindrucksvollen Roman geschrieben, in dem Kaspars Perspektive mit der Birgits in ihren Aufzeichnungen wechselt. Durchgehend verdeutlicht er den Gegensatz von West und Ost, vor allem die ausgeprägten rechtsextremistischen Tendenzen in den neuen Bundesländern und zeigt, wie schwer es für die Menschen war, zu einander zu finden. Mir hat das Buch gut gefallen und ich empfehle es gern weiter, weil es Zeitgeschichte, in diesem Fall die deutsche Vergangenheit und Gegenwart nachvollziehbar macht.