Rezension

Weihnachten in einer dysfunktionalen Familie

Schweig! -

Schweig!
von Judith Merchant

Bewertet mit 4 Sternen

 

In Judith Merchants Roman “Schweig!“ geht es um die Schwestern Esther und Sue. Esther ist mit Martin verheiratet, hat zwei Kinder, einen Job und wohnt in der Stadt. Sue lebt seit ihrer Scheidung von Robert allein in dem großen Haus im Wald und lässt die Natur auf sich wirken. Am Tag vor Heiligabend besucht Esther ihre Schwester unangekündigt mit einem Geschenk und einer Flasche Wein. Ester gibt sich als liebevolle, besorgte ältere Schwester, Sue dagegen wirkt einsilbig und abweisend und will sie nur loswerden. Dann kommen beide Schwestern im Wechsel zu Wort und später auch Martin und das Mädchen, hinter dem sich Esther in der Kindheit verbirgt, und es ergibt sich ein völlig anderes Bild. Esther ist manipulativ, boshaft und zeigt ein penetrantes Dominanzverhalten, gegen das niemand ankommt – Sue genauso wenig wie der unterwürfige Ehemann. Was Esther nicht will, passiert nicht. Sie biegt sich stets die Realität zurecht, wie es ihr passt und das schon seit der Kindheit. Seit damals nennt sie die Schwester Schnecke, was sich auf einen traurigen Vorfall in der Kindheit bezieht und keineswegs liebevoll gemeint ist. Esther inszeniert Aufführungen von glücklicher Ehe und stimmungsvollen Weihnachtsfesten, aber in Wirklichkeit ist alles anders.

Verunglückte Weihnachten haben in dieser Familie Tradition, nicht nur das Fest ein Jahr zuvor, bei dem Esther die Schwester am liebsten in die Psychiatrie hätte einweisen lassen, sondern auch ein Weihnachtsfest in der Kindheit der Schwestern, als der alkoholkranke Vater Selbstmord beging, was aber nur Esther wusste. Seitdem erfüllt sie mehr als gewissenhaft den Auftrag der Mutter, auf die jüngere Schwester aufzupassen, was ihr als Kontrollfreak vollkommen entspricht.

In den zahlreichen Kapiteln mit ständig wechselnder Perspektive wird eine bedrohliche Stimmung aufgebaut, die ebenso wie die frühe Ankündigung, dass nicht alle dieses Weihnachten überleben werden, dem Leser signalisiert, dass etwas Schlimmes passieren wird. Am Ende sind die Dinge nur scheinbar wieder in Ordnung. Die alte Machtverteilung bleibt, und Esther entlässt niemand aus ihrem Klammergriff. Der Roman über eine dysfunktionale Familie packt den Leser, obwohl es bis zum Finale ein paar Längen gibt. Auch sprachlich hat mich das Buch überzeugt.