Rezension

Was bedeutet Menschsein?

Sprich mit mir
von T.C. Boyle

Bewertet mit 5 Sternen

Ich habe von T.C. Boyle fast alles gelesen und hatte in den letzten Jahren den Eindruck, dass sein thematischer Zuschnitt sich arg verengte auf die Frevel, die der Mensch an dem Ökosystem begeht, in dem er lebt. Ein höchst relevantes Thema, aber bisweilen driftete er mir schon ein wenig zu sehr ab ins Moralinsaure. Nicht so in diesem Buch. Boyle ist sich thematisch zwar treu geblieben, aber er hebt das Thema auf eine höhere Ebene.

In „Sprich mit mir“ geht es um eine Experiment in der Verhaltens- und Spracherwerbsforschung, bei dem Sam, ein Schimpanse, wie ein Mensch aufgezogen wird und lernt, sich mittels Gebärden auszudrücken. Die Protagonisten Aimee ist eine anfangs etwas orientierungslose Psychologiestudentin, die in ihrer Sinnsuche auf eine Stellenanzeige stößt und so den Professor Guy Schermerhorn kennen lernt. Guy führt in einer eigens dafür eingerichteten Wohnung außerhalb der Stadt das Experiment am Schimpansen durch und stellt Aimee als Assistentin ein. Von der ersten Begegnung an entwickelt sich zwischen Aimee und Sam eine innige Beziehung. Die Einblicke in die Gefühlswelt des Schimpansen, aus dessen Sicht das Geschehen in Zwischenkapiteln betrachtet wird, verstärken dabei den Eindruck, dass die Grenzen dessen, was allgemeinhin für menschlich und was für tierisch gehalten wird, verschwimmen. Die Komplexität der Beziehung zwischen Aimee und Sam, die über das gesamte Buch hinweg im Fokus steht, geht weit über das hinaus, zu dem ein rein instinkt- und triebgesteuertes Wesen in der Lage wäre. Es geht Sam nicht bloß darum, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, sondern er empfindet Zuneigung, Eifersucht und Angst. Die womöglich beeindruckendste Erkenntnis aus dem Experiment ist aber, dass er, zwar in engen Grenzen, aber doch eindeutig dazu fähig ist, sein Verhalten zu reflektieren und in dem Sinne zu denken, wie man beim Menschen vom „Denken“ sprechen würde. Das cogito ergo sum, dass der Mensch bislang sich selbst vorbehalten hat und als Trennlinie zwischen Mensch und Tier gezogen hat, würde demnach diese trennende Eigenschaft verlieren. Diese Erkenntnis birgt Sprengstoff in sich, da ganze Industrien davon abhängen, die Würde des Tiers kleinzuhalten und ihm Fähigkeiten abzusprechen, die bislang als rein menschlich galten. Daraus entspannt sich auch in dem Buch ein höchst spannender Konflikt, der Aimee dazu treibt, sich selbst in größte Gefahr zu bringen, um Sam vor dem zu schützen, was Menschen mit ihm vorhaben – solche Menschen, in deren Weltbild ein Affe eben bloß ein Tier, ein Ding ist, über das sie frei verfügen können. Das Buch wirft so ganz elementare Fragen des Menschseins auf, insbesondere des Umgangs des Menschen mit dem, was ihm gegeben ist (oder ihm eben auch nicht gegeben ist).

„Sprich mit mir“ hat mich nicht nur auf intellektueller Ebene angesprochen, sondern mit großer Wucht auch auf emotionaler Ebene. Das Buch hat mich dazu gebracht, meine Bewertung dessen, wie der Mensch sich selbst über alles stellt und in Tieren bloß einen Nutzen erkennt, grundlegend zu überdenken. Die Beziehung zwischen und Aimee und Sam hat auch etwas zu Anrührendes, dass es mich emotional sehr mitgenommen hat, von den Widrigkeiten oder vielmehr von der Schlechtigkeit bestimmter Menschen zu lesen, deren Denken und Verhalten diese innige Beziehung immer wieder auseinanderzureißen droht. Das Ende des Buches ist eine logische Konsequenz dessen und doch rammt es dem Leser einen Pflock ins Herz. Aber das ist gut so, denn es soll ein aufrüttelndes Buch sein und das ist T.C. Boyle gelungen.