Rezension

Wann man erwachsen ist …

Hamster im hinteren Stromgebiet - Joachim Meyerhoff

Hamster im hinteren Stromgebiet
von Joachim Meyerhoff

Bewertet mit 5 Sternen

Ich habe Joachim Meyerhoff nie spielen sehn, sein öffentliches Wirken ging also völlig an mir vorbei; außer zwei Auftritten in Talkshows (WDR3) und einem Interview in Druckfrisch zu seinem neuen Buch habe ich ihn nie gesehen. Warum interessieren mich die privaten Geschichten eines mir unbekannten Schauspielers? Vor allem bei der Zweisamkeit der Einzelgänger, wo Liebesgeschichten des Autors breiten Raum einnehmen, habe ich mich das gefragt. Gut, nach vier Büchern ist er mir natürlich nicht mehr so unbekannt; aber trotzdem: Wenn ich die Autobiographie von Wolf Biermann lese, möchte ich etwas über Biermann erfahren – bei Meyerhoff scheint es mir anders zu sein.

Carolin Emcke schreibt in ihrem Buch Gegen den Hass, wir alle seien »Teil eines universalen Wir«, mit anderen Worten: Es kommt darauf an, andere Menschen möglichst vorbehaltlos wahrzunehmen, sie in ihren Gefühlen, ihrer Freude und ihrem Leid als sich selbst wesensgleich zu erfahren – egal, aus welcher Kultur sie kommen, aus welcher Religion, welchen Ländern, welche sexuelle Orientierung sie haben, welche Hautfarbe etc. Das universale Wir setzt sie Ausgrenzung, Hass und einem vermeintlichen Vorrang des deutschen Volkes (das als ethnisch oder kulturell homogene Einheit gar nicht existiert) entgegen.

Joachim Meyerhoff hat, so scheint mir, eine Neugier gegenüber seinen Mitmenschen – es mögen nicht alle gleich gut wegkommen, aber niemand wird abgewertet, alle werden letztlich anerkannt. Und auch er selbst wird als Mensch mit seinen Gefühlen, seiner Freude, seinen Problemen sichtbar: In den »Facts«, die er beschreibt, ist immer ein lebendiger Mensch mit seinen Empfindungen sichtbar. Ich glaube, das ist es, was seine Bücher so lesenswert macht.

Sein Erinnerungsprojekt Alle Toten fliegen hoch sollte mit der Zweisamkeit der Einzelgänger abgeschlossen sein; nachdem er (geb. 1967) mit 51 Jahren einen Schlaganfall erlitt, kam Hamster im hinteren Stromgebiet als Teil 5 von Alle Toten fliegen hoch hinzu.

Der Schlaganfall war relativ leicht; Meyerhoff behielt stets seine Sprache, vor allem seine linke Körperseite war in Mitleidenschaft gezogen. Noch indem er den Schlaganfall hatte, wurde ihm klar, was los war, und seine Tochter bestellte den Rettungswagen, in dem Meyerhoff allerdings geraume Zeit warten musste, bis ein Krankenhaus gefunden war, das ihn aufnehmen würde. Dennoch: Die Therapie begann relativ schnell.

In Hamster im hinteren Stromgebiet berichtet Meyerhoff u. a. von den unmittelbaren Folgen des Schlaganfalls, seinen Bemühungen, damit fertig zu werden, dem Leben im Krankenhaus, den Mitpatientinnen und -patienten, seinen Ängsten: Er fürchtete, wenn er nachts einschliefe, einen weiteren Schlaganfall zu bekommen, und vergegenwärtigte sich deshalb Erlebnisse und Geschichten aus der Vergangenheit. Diese Erzählungen wechseln sich im Buch mit der Gegenwart im Krankenhaus ab. Meyerhoff erzählt u. a. von seinen beiden Töchtern, seiner Frau, von der er getrennt lebt, seiner Lebensgefährtin Sophie und dem gemeinsamen Sohn, seiner Mutter. Er schildert Reisen mit seinem älteren Bruder, mit Sophie, mit den Töchtern. Komik scheint immer wieder durch – sowohl bezüglich der Krankheit und der Erlebnisse im Krankenhaus als auch in den anderen Erzählungen.

Meine Lieblingsgeschichte (S. 133 f.): Als seine älteste Tochter etwa fünf, sechs Jahre alt war, hatte sie oft Wutanfälle und warf sich, wenn sie etwas ärgerte, sie unzufrieden war, unvermittelt hin, auf den Rücken, ohne den Fall mit den Händen abzufangen, wobei ihr Kopf auf den Boden prallte. Das führte dazu, dass Meyerhoff bei weicheren Böden (auf Wiesen, am Strand) strenger war (weniger Gefahr für den Kopf) als auf harten (Gehwege, Parkplätze). Die Wutanfälle besserten sich, nachdem Meyerhoff seiner Tochter von seinen eigenen Wutanfällen erzählte, die er als Kind immer wieder gehabt hatte.

Einmal begegneten sie einer Frau mit ihrem kleinen Sohn, der auf dem Weg lag, brüllte, um sich schlug, weinte. Danach meinte Meyerhoffs Tochter zu ihrem Vater: »Papa, ich glaube, ich bin jetzt bald erwachsen.« »Warum glaubst du das?« »Ich kann mich schon im Stehen ärgern!« 

Gegen Ende fragt Meyerhoff Sophie, ob sie sich einen Umzug aus Wien in eine andere Stadt, Berlin, vorstellen könne, und Sophie ist sehr dafür. Ein Neubeginn scheint also anzustehn. (Nach dem Ende der Spielzeit 2018/19 wechselte Meyerhoff an die Berliner Schaubühne.)

Kommentare

wandagreen kommentierte am 09. Oktober 2020 um 09:00

Intellektuelle Rezension. Ein Schauspieler ist das? Irgendwie hast du Antipathie bei mir geweckt.

Emke: einem vermeintlichen Vorrang des deutschen Volkes ... bestimmt ist es aufgrund unserer Historie richtig gemeint, aber wie es sich anhört? Grauenhaft. Jede Gemeinschaft gibt sich den Vorrang vor anderen. Das ist u.a. ihr Wesen. Sonst gäbe es nicht mal Fussball. Kommt natürlich drauf an, was dieser Vorrang beinhaltet. Weiss ich. Trotzdem schütten solche Formulierungen gerne das Kind mit dem Bade aus.
 

Steve Kaminski kommentierte am 09. Oktober 2020 um 22:34

Na ja, Antipathie wecken wollte ich sicher nicht. - "Jede Gemeinschaft gibt sich den Vorrang vor anderen" - nein, das finde ich nicht, und es ist auch nicht ihr Wesen. Und wenn es so ist, ist es eine schlechte Gemeinschaft. So sehe ich es. Ob man Fußballvereine als Gemeinschaft auffassen kann - da hab ich meine Zweifel. Und Deutschland, die Deutschen als Gemeinschaft? Eine Gesellschaft, aber keine Gemeinschaft - eine Gemeinschaft ist m.E. durch ein Miteinander ihrer Mitglieder und etwas Gemeinsames definiert - etwa ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Haltung... Und darin kann man sich mit anderen Gemeinschaften treffen. Da braucht es keine Konkurrenz zu geben.