Rezension

Vier Episoden ergeben ein Ganzes

Schnittbild -

Schnittbild
von Anna Felnhofer

Bewertet mit 4 Sternen

Milch: In einer Silvesternacht sitzt Fabjan an seinem Fenster, beobachtet die Welt draußen mit seiner Kamera, blickt zurück auf seine kürzlich beendete, zerstörerische Beziehung zu Lena, einer ehemaligen Schülerin.

Mohn: Viele Jahre zuvor: Die vierzehnjährige Rahel wird als selbstmordgefährdet in die Psychiatrie eingewiesen. Ihre Therapeutin ist sehr jung, entsprechend engagiert. Doch Rahel beginnt ein ungesundes Interesse an der Frau zu entwickeln.

Minze: Dazwischen: Eriks Frau verschwand vor sieben Jahren spurlos bei einem Italienurlaub. Er bleibt mit zwei Töchtern allein zurück, leidet, an Trauer und Schuldgefühlen.

Marzipan: Danach: Eine Frau kann seit Tagen nicht schlafen. Es ist Hannah, die Therapeutin, die Rahel, Erik und Fabjan betreut hat.

Schnittbild ist der Debütroman von Anna Felnhofer. Die Autorin arbeitet als klinische Psychologin und Forscherin an der Med-Uni in Wien. Bei dem Roman handelt es sich um einen Episodenroman, der sich auch genauso bezeichnet. Milch, Mohn, Minze und Marzipan sind die Titel der einzelnen Geschichten Bindeglied ist die Therapeutin Hannah.

Es geht um Abhängigkeiten, Grenzüberschreitungen, unterschiedliche Wahrnehmungen, vielfältige Verhältnisse zwischen Therapeut*in und Patient*in. Vieles was sich anfangs als sehr kryptisch darstellt, löst sich beim Kennenlernen der Verbindungen und Beziehungen glasklar auf. Seltsames Verhalten, bestimmte Geschehnisse, die zunächst völlig unklar sind, wie sie zur Geschichte passen ergeben plötzlich einen Sinn. Die einzelnen Episoden sind zwar voneinander abgegrenzt, Anspielungen auf frühere und spätere Handlungen, Verschiebungen der Perspektive, Sprünge in der zeitlichen Abfolge erfordern Geduld und höchste Aufmerksamkeit.

„Es ist wahrscheinlich, dass Abhängigkeiten erst im Laufe jener Handlungen verständlich werden, die nötig sind, um diese Abhängigkeiten zu erschaffen.“

Neben Hannah verbindet noch ein Merkmal die Episoden: Die immer wiederkehrende Erwähnung einer Fotomontage von Yves Klein. Der Sprung ins Leere, ein Zusammenschnitt zweier Bilder, von einem Mann, der scheinbar fliegt und einer bis auf einen Radfahrer leeren Straße.

„…jedes dieser Bilder trägt seine eigene Wahrheit, aber zugleich auch das Prinzip der anderen in sich und wirkt so auf zweifache Weise: Mit einer Wahrheit, die für sich stehen kann, und mit einer, die über diese in sich geschlossene, segmentierte Wahrheit hinausweist.“

Schnittbild ist eine Analyse von Menschen in der Krise, eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, Grenzen und Auswirkungen therapeutischen Handelns. Für mich eine Erweiterung des Lesehorizonts.

Schnittbild ist nominiert auf der Shortlist Debüt des Österreichischen Buchpreises 2021.