Rezension

Unzählige Fragen – und keine Antworten

Allein unter Schildkröten - Marit Kaldhol

Allein unter Schildkröten
von Marit Kaldhol

Mikke lebt in Norwegen und ist 18 Jahre alt. Er ist ein kluger und nachdenklicher Junge, der kurz vor seinem Abitur steht. Danach wird er Biologie studieren, so sein Entschluss. Er ist ein sensibler Typ, schreibt Tagebuch und stellt sich und dem Leben unzählige Fragen. Gemeinsam mit seinem Kumpel Sverre, der am Down-Syndrom leidet, sieht er sich gern Tierdokumentationen an. Besonders angetan haben es ihm die Meeresschildkröten. Doch mit der Zeit wird Mikke selbst mehr und mehr zur Schildkröte, denn er zieht sich – einem Panzer gleich – vollständig in die schützende Umgebung seines Zimmers zurück. Zur Schule geht er nicht mehr, er meldet sich weder bei seiner Freundin Siri noch bei seinen Kumpels. Als seine Mutter mit ihrem Lebensgefährten aus dem Urlaub zurückkehrt, finden sie Mikke tot in seinem Zimmer. Für alle Menschen, die entsetzt zurückbleiben, stellt sich vor allem eine Frage: Warum?

“Allein unter Schildkröten“ von Marit Kaldhol ist ein bemerkenswertes Buch! Es ist kein Roman, aber dennoch zutiefst berührend. Der erste Teil besteht aus Mikkes Tagebuchaufzeichnungen. Im zweiten Abschnitt erinnert sich seine Mutter an viele gemeinsame Ereignisse und versucht, das Unfassbare zu begreifen. In Teil drei finden sich Briefe der Menschen, die Mikke zurückließ. „Allein unter Schildkröten“ ist ein ungewöhnliches Buch, das ich ohne eine einzige Unterbrechung gelesen habe. Zugegeben, bei nur 136 Seiten ist das nichts Besonderes, dennoch: Mich nahm die tragische Geschichte um Mikke von der ersten Seite an gefangen. Dieses Buch strahlt eine ungeheure Kraft aus. Es ist faszinierend, dass Autorin Marit Kaldhol mit wenigen Worten eine beeindruckende Kulisse entstehen lässt und von einer solchen Tragödie erzählt – allerdings niemals kitschig. Sie widmet sich den Themen Depression, Selbstmord, Trauer, Tod und Verlust anrührend, sensibel und wiederum doch auf eine ganz eigene Art und Weise schonungslos. Beim Lesen von „Allein unter Schildkröten“ habe ich eine große innere Ruhe verspürt, wie ich es bei noch keinem Buch zuvor erlebt habe. Dieses Gefühl bei mir als Leserin und der Stil der Schriftstellerin bildeten hier eine wunderbare Einheit: Man besinnt sich auf das Wesentliche, denkt nach, stellt elementare Fragen und beachtet alles Überflüssige einfach nicht. Mein Fazit: Still, bewegend, großartig!