Rezension

Trotz hochinteressanten Themen nicht überzeugt

Auf See -

Auf See
von Theresia Enzensberger

Bewertet mit 2.5 Sternen

Handlung

»Auf See« hat dystopische und utopische Elemente; die Grenzen verlaufen oft so fließend wie Strömungen im Meer. Erzählt wird auf drei Handlungsebenen:

Ebene 1:

Eine davon ist auf einer schwimmenden Stadt in einer Sonderwirtschaftszone der Ostsee angesiedelt, wo eine autarke Gemeinschaft sich geradezu kultisch von der als gefährlich geltenden Außenwelt abschottet.

Die Ausnutzung und Unterdrückung einer nahezu unsichtbaren, rechtlosen Schar von Mitarbeiter:innen wird dabei von der privilegierten Bürgerschaft, geblendet von utopischen Versprechungen, billigend in Kauf genommen. Denn die Seestatt ist Rettung, die Seestatt ist Heimat, die Seestatt ist »Glück im Angesicht des Untergangs«. Sie unterliegt der Leitung eines Unternehmers, dessen ehemals libertäre Ansichten schon lange einer guruartigen Selbstherrlichkeit gewichen sind.

Dessen Tochter Yada ist die Protagonistin dieses Handlungsstrangs. Sie wächst behütet auf, aber auch isoliert, bewacht und grundlegend in ihrer Entwicklung beschnitten. Nach einem Erweckungsmoment flieht sie, bricht aus ihrem Glaskäfig aus – und muss feststellen, dass die Seestatt auf einem Geflecht aus Lügen beruht. Dahinter, wer hätte es gedacht, stecken auch monetäre Interessen.

Ebene 2:

Die zweite Ebene dreht sich um die Künstlerin Helena, die für ein ambitioniertes Kunstprojekt eine Sekte gegründet hat. Auch hier wieder steht wieder das Kultische im Mittelpunkt: die Frage, was Menschen in die Arme von Sekten treibt – welchen Mangel, welche psychologische Not sie nirgendwo sonst gelindert sehen.

Ganz ungeplant und ungewollt ist sie allerdings nicht nur in diesem abgesteckten Rahmen zur Lichtgestalt geworden, sondern wird inzwischen weltweit als Orakel wahrgenommen, aufgrund einer Reihe von launenhaft dahergesagten Prophezeiungen, die rein zufällig ins Schwarze trafen. Die Geister, die ich rief …

Ebene 3

Die dritte Ebene ist ein Ableger der zweiten, denn Helena hat ein Archiv missglückter utopischer Projekte angelegt, das hier in diversen Kapiteln auszugsweise abgedruckt wird.

Der Name »Auf See« ist Programm. In allen Erzählebenen finden sich immer wieder Querverbindungen zum Meer: Kolonialisierung, Handel, Finanzkriminalität, Steuerparadiese – aber auch kultische Verklärung, wenn es zum Beispiel um den Mythos der Piratenrepublik Libertatia geht.

Meine Meinung:

Der Roman liest sich schnell und unterhaltsam runter; darüber hinaus verbindet seine Handlung einige hochinteressante Themen: Neoliberalismus, Kollektivismus, Individualismus, Sektenbildung und Sektentum, Strategien zum nachhaltigen Leben, Gentrifizierung, gescheiterte Zukunftsvisionen und mehr … Alles wird fundiert in den geschichtlichen Kontext eingeordnet, inklusive Erwähnung der jeweils wichtigsten Personen und Fakten, so dass geneigte Leser:innen weiterforschen können.

Lehrreich ist das auf jeden Fall.

In meinen Augen krankt die Umsetzung indes auf erzählerischer Ebene an einer gewissen Oberflächlichkeit. Da wird viel angerissen, ohne weiter vertieft zu werden, oder in Wikipedia-artigen Artikeln zwar ausführlich als Sachtext abgehandelt, dabei aber nicht in der Handlung verwurzelt. Wichtige Handlungselemente werden vorgegeben, der Roman praktiziert dabei oft das Gegenteil des elementaren ‘show, don’t tell’: Das passiert, dann passiert das. So ist das, und zwar deswegen. Nur sehr wenig musst du dir als Leser:in selbst erschließen.

Gerade der Schauplatz der Seestatt verschenkt meines Erachtens enormes dramatisches Potential: Was für eine spannungsgeladene Situation, eigentlich, wenn das verhätschelte ‘Prinzesschen’ auf die ausgebeuteten Arbeiter trifft! Leider verpufft das als gescheiterter White Savior Complex.

Die Erzählung bleibt gefühlt immer auf Distanz. Die Protagonistinnen blieben für mich ohnehin etwas farblos, da sie sich nur selten an echten Schwierigkeiten aktiv beweisen können. Eine Vielzahl von Hindernissen stößt ihnen genauso ohne eigenen Antrieb zu wie deren Auflösung, die Geschichte verläuft recht gradlinig. Yada bricht zum Beispiel ohne größere Probleme aus ihrer beschränkten Existenz aus, was ein echter Wendepunkt in ihrer persönlichen Entwicklung hätte sein können. Ganz nebenher steckt sie locker noch eine eigentlich dramatische Entwicklung ohne größere emotionale Erschütterung weg. Und als ein ehemaliger Anhänger Helenas die Sekte an sich reißen will, stört sie das im Grunde auch nicht wirklich – sie ist passiv, so wahnsinnig passiv in jeder Hinsicht.

Im Ganzen ist mein Fazit:

Der Roman behandelt hochinteressante, sicher gut recherchierte Themen, bindet sie aber aus meiner Sicht nicht stimmig ein in die Rahmenhandlung – stattdessen wird diese immer wieder von reinen Gebrauchstexten unterbrochen. Die Protagonistinnen bleiben für meine Begriffe blass, auch beschriebene Schauplätze und Situationen lesen sich wie reine Vehikel, um den Plot von A nach B zu transportieren.