Rezension

Schuld, Verlust, Trauer, Liebe

Schicksal -

Schicksal
von Zeruya Shalev

Bewertet mit 3 Sternen

Der Roman „Schicksal“ der israelischen Autorin Zeruya Shalev ist so ein Buch, bei dem mir einfach kein kluger, unterhaltsamer Einstieg in die Rezension einfallen will. Ich fühle mich nach der Lektüre erschlagen von dem Text und bin ganz leer, wenn es um einen objektiven Eindruck geht. Der Titel weist recht eindeutig darauf hin, der Roman dreht sich nicht um Lappalien, sondern um wegweisende Ereignisse im Leben der Figuren. Ein Zufall, eine Entscheidung und eine Tragödie später ist ein Mensch zerbrochen und mit ihm die Welt ein wenig dunkler geworden. Atara hat sehr gelitten unter ihrem harten Vater Meno und wird nun an seinem Sterbebett von ihm Rachel genannt. Die Frau, über die in der Familie nicht gesprochen wurde und die irgendwie mit Atara zusammenhängt. Atara macht Rachel schließlich ausfindig, entschlossen dieses Familiengeheimnis ans Tageslicht zu holen. Damit zwingt sie Rachel zurück in eine Zeit zu einem Mann, über den auch sie in ihrer späteren Familie nicht reden durfte.
Der Roman gibt aus Rachels Perspektive Einblicke in die Anfänge des Staates Israels, in die Zeit der Freiheitskämpfer und des Lebens im Untergrund. Rachel ist Idealistin durch und durch, und merkt erst zu spät, dass sie sich dadurch von ihren Söhnen entfernt. Siebzig Jahre später hält vor allem ihr ältester Sohn ihr den Pathos des Freiheitskampfes anklagend vor, denn wie will sie es rechtfertigen, dass die Israelis für ihre Freiheit gegen die britischen Besatzer gekämpft haben, um es dann den Palästinenser zu verwehren, die bis heute um ihre Freiheit kämpfen?
Mit Atara erleben wir das heutige Israel. Sie lebt ein gutsituiertes Leben im modernen Haifa. Setzt sich als Architektin für die denkmalgeschützten Häuser ein, die für sie Zeugnis einer bewahrenswerten Geschichte ablegen. In zweiter Ehe verheiratet pendelt die Beziehung zu dem etwas älteren Alex zwischen Leidenschaft und Vorwürfen. Auch nach zwei Jahrzehnten trägt sie schwer an der Schuld, zwei Familien durch diese Liebe zerstört zu haben. Atara ist ganz mit sich und ihrer Geschichte beschäftigt. Während sie auf den Spuren der alten Liebe ihres Vaters unterwegs ist, schiebt sie das Unwohlsein ihres Mannes beiseite, ohne zu ahnen, dass Alex‘ Tage gezählt sind.
Zeruya Shalev erzählt fast unangenehm intensiv nur aus der Innensicht ihrer zwei weiblichen Protagonisten heraus. Das ist in der ersten Hälfte des Romans spannend und wird in der zweiten Hälfte immer bedrückender. Rachels Einblicke in ihre Zeit als Widerstandskämpferin wirken irgendwie lückenhaft, ihre Radikalisierung scheint sie selbst nicht mehr ganz nachvollziehen können. Die erlebten Traumata dieser Jahre versucht sie mit dem neuen Familienleben zu verdrängen, was letztlich nicht gelingt, wie sie sich nun Jahrzehnte später eingestehen muss. Doch Shalev gibt ihrer Figur viel Raum und Tiefe, die Gebrochenheit wirkt glaubwürdig auf mich. Dagegen werde ich mit der Figur der Atara bis zum Schluss nicht warm. Mich rührt ihre Verlorenheit, aber mich nervt ihre Egozentrik maßlos, mit der ich einfach nichts anfangen kann. Nach dem Tod von Alex verliert sie sich regelrecht in der trauernden Nabelschau und ist nicht in der Lage bei ihren Kindern oder Freunden Halt zu finden. Die eigentlich enge Verbindung zur Tochter aus erster Ehe entpuppt sich im Angesicht von Ataras Verlust als Trugbild. Die sich im Auslandsstudienjahr befindliche Avigail reist nicht einmal zur Beerdigung an, um ihrer Mutter Beistand zu leisten. Die Trauer um ihren Stiefvater hält sich in Grenzen. Der gemeinsame Sohn Eden kämpft gegen Ende seiner Militärzeit mit eigenen Dämonen und findet bei seiner aufgelösten Mutter wenig Unterstützung.
Shalev versucht zum Ende ihres Buches das Ruder herumzureißen und mich als Leser mit einem versöhnlichen Ausblick zu verabschieden. Dafür bin ich ihr durchaus dankbar. Doch in mir bleibt vor allem ein Unbehangen nach der Lektüre dieser Schicksalsgeschichte zurück.