Rezension

Queere Dystopie

Zum Paradies
von Hanya Yanagihara

Bewertet mit 5 Sternen

 Was für eine Hammerschlag zum Auftakt des Bücherjahres! Mit Hanya Yanigharas "Zum Paradies" steht für mich jedenfalls fest, dass ich bereits ein Buchhighlight dieses Jahres gelesen habe und es schwer ist, hier noch zu toppen. Trotz des Umfangs von mehr als 900 Seiten habe ich das Buch regelmäßig vershclungen - wobei hier eigentlich drei Romane in einem stecken, den ich als queere Dystopie bezeichnen würde, denn die meisten der Hauptfiguren sind schwul - und das ist im ersten, im Jahr 1893 handelnden Roman so normal und selbstverständlich, dass ich mich geradezu gewundert habe, als dann doch mal von heterosexuellen Beziehungen die Rede war.

Verbindendes Element der drei in sich abgeschlossenen Teile sind der Ort - ein Haus am Washington Square in New York - und die Namen der Hauptfiguren, die sich in wechselnden Konstellationen wiederholen. Ansonsten greift die Autorin durchaus zu unterschiedlichen Stilmitteln - erinnert der erste Teil in seinem Setting an einen Roman von Henry James, ist der letzte, im Jahr 2093 spielende Teil eine Schreckensutopie, die an Orwell und Huxley erinnern in ihrer Warnung vor den Möglichkeiten, die eine Gesellschaft zwischen Ängsten und Radikalisierung treffen können.

Yanagihara beschreibt Beziehungen, die Sehnsucht nach Nähe und die Einsamkeit und Entfremdung zwischen ehemals Liebenden,Abhängigkeiten und den Umgang mit Krankheit, die Suche, sich ein kleines irdisches Paradies als einen Kokon gegen die Schrecken der Außenwelt zu schaffen. Menschliches Verhalten zwischen Anpassung an Erwartungen und gesellschaftlichen Druck, die Verantwortung für andere und die Konsequenzen von Lebensentscheidungen werden gleichermaßen thematisiert, ebenso die Frage nach Identität.

Das Haus am Washington Square ist im ersten Teil des Buches Heim einer der reichsten Familien New Yorks. Nach dem frühen Tod der Eltern hat der dort lebende Großvater die drei verwaisten Enkel der Familie aufgezogen, der älteste lebt immer noch dort, aufgrund regelmäßig auftretender Krankheitsanfälle im Gegensatz zu seinen erfolgreichen Geschwistern ein Gentleman of leisure. Doch nun, so drängt der Großvater, sollte auch er sich nach einem Lebensgefährten umsehen, eine arrangierte Hochzeit wird angebahnt, als sich der reiche aber kunstbeflissene Müßiggänger in einen mittellosen Musiklehrer verliebt und vor der Entscheidung steht, ob er die vorgegebenen Bahnen verlässt oder aus den Erwartungen ausbricht und einer Liebe folgt, von der er nicht sicher sein kann, ob sie nicht nur einseitig ehrlich ist.

Hundert Jahre später im New York des Jahres 1993 ist es, klar, der große Schatten von AIDS, der das Leben der Protagonisten bestimmt. Ein junger Mann und sein deutlich älterer Partner leben nun in dem Haus am Washington Square. Es ist die Zeit, in der ein sterbender Freund schon fast dafür beneidet wird "nur" an Krebs und nicht an der "Seuche" zu sterben. Zugleich geht es um die Fragen von Herkunft und Identität, um kulturelle Aneignung, um die von den Eltern geerbten Traumata.

Konnten in den Jahren 1893 und 1993 die Probleme der Außenwelt in dem bequemen, von Dienstboten umsorgten Leben am Washington Square noch ausgeblendet werden, so ist die im Jahr 2093 beschriebene Welt eine völlig andere. Krankheiten und Viremutationen, der Klimawandel und seine Folgen haben das Leben und Überleben der Menschen schwer beeinflusst - und die Gesellschaft hat sich auf dramatische Weise verändert. Der Kampf um immer knapper werdende Ressourcen hat die nationalen Egoismen aufflammen lassen, schon aus Angst vor der Verbreitung von Krankheiten ist Reisen nicht mehr möglich. Peking dominiert die Welt, nur wenige Staaten im alten Europa haben noch innerhalb der Region offene Grenzen und bewahren einen Rest von Liberalität.

In New York, wo die junge Charlie mit ihrem Ehemann in einer der mittlerweile in acht Wohnungen aufgeteilten Haus am Washington Square lebt, bestimmen hingegen Überwachungsdrohnen, Lebensmittelrationierungen, und sogenannte Umsiedlungszentren für Infizierte das Bild. Wer infiziert ist, wird isoliert, mit der ganen Familie und dem Sterben überlassen. Sich draußen aufzuhalten, ist nur noch mit Schutzanzügen möglich. Homosexualität ist illegal und Charlies Großvater, der als Wissenschaftler Schuld und Verantwortung für den Umgang mit Kranken trägt, will wenigstens noch seine Enkelin retten.  Es ist eine verstörende Zukunftsvision, die angesichts der Polemik eines Donald Trump in den vergangenen Jahren einerseits und der Debatten während der Corona-Pandemie andererseits nicht völlig abseitig klingt. Gerade weil bei aller Zuspitzung ein Hauch von Möglichkeit darin liegt, ist diese Dystopie so beeindruckend wie depremierend.

Sprachlich ud inhaltlich hat mich die Autorin mit diesem Mammutbuch völlig überzeugt. Für mich ist "zum Paradies" eine Wucht und ausgesprochen empfehlenswert.