Rezension

Philosophische Reise in mehreren Etappen

Schiffbruch mit Tiger - Yann Martel

Schiffbruch mit Tiger
von Yann Martel

Bewertet mit 4 Sternen

Während eines schrecklichen Sturms erleidet er Schiffbruch und kann sich gerade noch aus einziger menschlicher Überlebender auf das Rettungsboot flüchten.
Doch dieses muss er sich mit einem Raubtier teilen.

 

Piscine Molitor Patel lebt trotz der Hänseleien, die er aufgrund seines Namens ertragen muss, gerne in Pondicherry, einer französischgeprägten Stadt in Indien. Er liebt den Zoo seiner Eltern, in dem es ständig etwas Neues zu entdecken gibt. Nebenbei lernt er bereitwillig die Vielfalt der Religionen kennen, die sein Heimatland zu bieten hat. Nie hätte er gedacht, dass seine Familie einmal auswandern würde, zusammen mit all ihren Tieren. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass die so spannende Überfahrt so tragisch enden und ihn zu einem Waisen machen würde.
Aber plötzlich findet er sich auf dem offenen Meer wieder, inmitten auf hoher See, und muss mit Erschrecken feststellen, dass sein einziger Begleiter Richard Parker ist, der ausgewachsene Tiger seines Vaters.

 

 

Ich muss gestehen, ich habe den Film gesehen, bevor ich das Buch gelesen habe. Ich war begeistert von den Bildern und der Geschichte und wollte deswegen unbedingt die Vorlage kennenlernen. Deswegen hatte ich ein bisschen was anderes erwartet, dennoch konnte mich der Roman auf seine eigene Art und Weise berühren.
Zum größten Teil lag das vor allem an der Hauptfigur Pi Patel, die mich sehr beeindruckt hat. Sie ist ein Teenager, der sich schon vor seiner abenteuerlichen Reise zu einem hochsensiblen Menschen entwickelt. Fasziniert von allen Religionen studiert er jede für sich, aufgeschlossen für all die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sie ausmachen. Seine Betrachtungen und Entdeckungen mögen manchmal recht weitschweifig und unzusammenhängend sein, aber sie stimmen einen auch nachdenklich und bringen einen dazu, so einiges von einem ganz anderen Blickwinkel aus zu sehen. Umso erstaunlicher und bemerkenswerter ist die Wandlung, die der junge Mann während seiner Odyssee durchmacht. Im Kampf ums Überleben muss er etliche seiner Prinzipien über den Haufen werfen und sich behaupten, was ihm vor allem anfangs sehr schwerfällt. Das macht ihn zu einem Protagonisten, der eine Geschichte allein tragen kann, was er auch muss. Denn es gibt nicht viele potentielle Mitstreiter um ihn herum.

 

Der Schreibstil passt sich der Handlung wunderbar an: Unglaublich philosophisch und bildhaft und an bestimmten Stellen knapp und präzise. Der Autor gibt dem Leser die Möglichkeit, sich wichtige Sachverhalte durch den Kopf gehen zu lassen, indem er das Tempo reduziert. Gleichzeitig gelingen ihm allerdings ebenso die spannenden Szenen, die einen mitfiebern lassen und es definitiv wert sind, das Buch nicht zu schnell wegzulegen. Denn der Anfang zieht sich etwas, vermutlich besonders für diejenigen, die den Film kennen. Obwohl ich die einzelnen Kapitel interessant fand und ich mir gerne Gedanken über die Inhalte gemacht habe, habe ich erst eine Weile gebraucht, um mich daran zu gewöhnen.
Den zweiten Abschnitt habe ich dagegen deutlich schneller verschlungen und war dabei positiv überrascht von der Detailgenauigkeit Martels, was die Überlebenstechniken auf hoher See angeht.
Doch auch hier hat mich die Etappenhaftigkeit der Story hin und wieder gestört. Auf der einen Seite ist es nachvollziehbar, wenn ein traumatisierter Geretteter beim Erzählen nicht unbedingt die korrekte Reihenfolge aller Ereignisse rekapitulieren kann. Auf der anderen Seite springt das Geschehen bisweilen so krass von einem Erlebnis zum nächsten, dass man leicht den Überblick verliert und neu suchen muss.

 

 

Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel ist vor allem ein sehr philosophisches Buch, das einen immer wieder zum Nachdenken anregt. Mit einem bewundernswerten Hauptcharakter, einer unfassbaren Story, deren Spannung sich langsam aufbaut und einem Schreibstil mit Liebe zum Detail konnte mich der Roman überzeugen.
Anfangs tut man sich womöglich etwas schwer, in die Geschichte hineinzufinden. Und die sprunghafte Erzählweise macht es einem manchmal nicht leicht, dem Geschehen zu folgen.
Trotzdem sollte man sich, wenn man den Film liebt, die Vorlage dazu ebenfalls einmal ansehen. Dasselbe gilt für solche Leser, die sich gerne mit etwas anderen Denkweisen und Perspektiven auseinandersetzen wollen.