Rezension

Nur drei volle Mahlzeiten von der Revolution entfernt - liebenswerte, apokalyptische Weihnachtsgeschichte

Der Wal und das Ende der Welt - John Ironmonger

Der Wal und das Ende der Welt
von John Ironmonger

Bewertet mit 5 Sternen

Oft bleiben Bücher besonders intensiv in Erinnerung, die sich nur schwer einem Genre zuordnen lassen. Bei John Ironmongers Azalea Lewis war das bereits so. "Der Wal" fügt der britische Autor aus einem beschaulichen Schauplatz an der Küste Cornwalls, dem Leviathan-Mythos, der mathematischen Prognose menschlichen Verhaltens und einer dystopischen Handlung in unserer nahen Zukunft zusammen. Erzählt wird diese skurile Mischung rückblickend als mündliche Überlieferung des Ortes. Offenbar haben die handelnden Figuren überlebt und konnten die Geschehnisse ihren Enkeln erzählen.

In St. Piran wird halbtot ein junger Mann an der Küste angespült, von dem anzunehmen ist, dass er sich das Leben nehmen wollte. Joe hat als Mathematiker für eine englische Bank eine Formel entwickelt, um menschliches Verhalten in die Zukunft fortzuschreiben und so maximalen Profit am Aktienmarkt erreichen zu können. Doch Joe ist offenbar für die Welt der Formeln und Algorithmen nicht gemacht und flieht vor seinen persönlichen Dämonen mit dem Auto aus der Hauptstadt – bis die Straße am Meer irgendwann nicht mehr weiterführt. Joe wird von den Dorfbewohnern gerettet und herzlich aufgenommen. Fernab der Hamsterräder der Metropolen hat der kleine Fischerort wie in einer Schneekugel überdauert. In St. Piran vergeht die Zeit in gemächlichem Tempo und Handyempfang braucht hier sowieso niemand.

Als ein Wal hilflos an der Küste angespült wird, zeigt sich bei der Rettung des gewaltigen Tiers den Bewohnern zum ersten Mal Joes beeindruckende Fähigkeit, andere Menschen zu gemeinsamem Handeln zu motivieren. Joe gelangt durch die Rettungsaktion zu ungewohntem Ansehen im Ort. Als weltweit eine Grippe-Epidemie ähnlich der Spanischen Grippe von 1918 ausbricht, muss die kleine Gemeinde in der Realität eine Ausnahmesituation schultern, wie sie zuvor schon Mathematiker simuliert hatten. Wenn ein bestimmter Prozentsatz der arbeitenden Bevölkerung schwer krank wird oder stirbt, fällt in diesen apokalyptischen Szenarien zuerst die Stromversorgung aus, gleichzeitig mit der Wasser- und Treibstoffversorgung, für deren Pumpen Elektrizität nötig ist. Am Beispiel Joes, der keinen blassen Schimmer hat, ob das Dorf lieber normales Mehl oder „selfrising flour“ als Notvorrat bunkern soll, zeigt sich, wie unfähig moderne Menschen bereits zu den einfachsten Überlebenstechniken sind. Doch in St. Piran gehen, wie gesagt, die Uhren anders und es gibt genug Menschen, die sich an alte Zeiten vor dem technischen Fortschritt erinnern können. In der Krise kann z. B. selbst ein betagter Arzt die Menschen beraten und versorgen. Wenn keine Lieferungen mehr von außen eintreffen, muss man sich auf das konzentrieren, was die Gegend selbst hervorbringt: Fisch, Rindfleisch und Milch. Auf archaische Ängste vor Seuchen, Sturmfluten und hungrigen Menschenmassen reagieren Joe und St. Piran unerwartet – und das zum Weihnachtsfest.

Fazit
John Ironmonger deckt im Nachwort die Anregung zu seinem dystopischen Seemannsgarn auf: der u. a. Trotzki zugeschriebene Ausspruch "Jede Gesellschaft ist nur drei volle Mahlzeiten von der Revolution entfernt.", dessen Quelle noch nicht überzeugend geklärt ist. Ironmongers Figuren (z. B. Kenny, der Treibgutsammler) zeigen sich so skuril wie liebenswert, allein seine Erzählweise lohnt die Lektüre des Buchs. Das Nachdenken über die Weltwirtschaft in Form eines gestrandeten Wals und die nahenden hungrigen Massen aus anderen Landesteilen wirkt für ein im Original Anfang 2015 veröffentlichtes Buch geradezu beunruhigend weitblickend. Auch wenn ich kein passendes Genre für Ironmongers dystopische Weihnachtsgeschichte um einen gestrandeten Wal und die Flucht aus der täglichen Tretmühle finde: sie lohnt sich zu lesen.