Rezension

Nichts

Die geheimste Erinnerung der Menschen -

Die geheimste Erinnerung der Menschen
von Mohamed Mbougar Sarr

Bewertet mit 5 Sternen

"Versuche nie zu sagen, wovon ein großes Buch handelt. Wenn du es dennoch tust, ist die einzig mögliche Antwort: 'von nichts'." (S. 46) Das ist der Rat, den Diéganes Mitbewohner ihm gibt, als ersterer versucht Stanislas den Inhalt eines verschollenen Buches wiederzugeben.

Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr handelt von der Suche nach diesem Buch "Das Labyrinth der Unmenschlichkeit" und seinem senegalesischen Autor T.C. Elimane, der nach der Veröffentlichung seines ersten und einzigen Werks 1938 spurlos verschwand.
Ich bin versucht, diesem Rat zu folgen, verstärkt von der Aussicht, dem tödlichen Zauber, der dem abgängigen Schriftsteller nachgesagt wird, sämtliche seiner Kritiker in den Tod getrieben zu haben, zu entgehen.
Also, vorsichtshalber sage ich mal an dieser Stelle, das Buch handelt von Nichts!

Und alle anderen, die mutig genug sind weiterzulesen, muss ich enttäuschen (muah, muahaha), den Sarr schafft vor dem Vergnügen der Detektivarbeit, die Mühe zur Überwindung der hochliterarisch, verwirrenden ersten Seiten, die jedem Vergnügungsleser das Beiseitelegen dieses, in warmen Farben und afrikanischen Mustern versehenen, Buches als das weitaus lohnendere Ziel erscheinen lassen. (Tja, nun, wer hier schon scheitert...)

Und schon verbirgt sich der nächste Stolperstein im vorangegangenen Absatz, "afrikanische Muster"! Das darf auf keinen Fall ein Kriterium der Kritik sein. Niemand soll das Exotische, das Unerwartete, das sowieso nur auf unserem postkolonialistischen Gedankenmist der hellhäutigen Überheblichkeit gewachsen ist, bemerken, sonst...

Aber Diégane ist selbst Senegalese, hörte schon auf dem Gymnasium von diesem Autor, geht mit einem Stipendium nach Paris und forscht bei jeder Gelegenheit weiter nach diesem Buch. 2018 fällt es ihm dann bei einem Liebesabenteuer unerwartet in die Hände. Seine Gespielin und großzügige Spenderin verbindet ein besonderes Band mit der sagenumwogenen Gestalt Elimanes.

Zugegeben, die Geschichte ist komplex, voller exotischem Flair, aber auch schlimmen Erinnerungen aus Bürgerkriegen in Afria, der unsäglichen Zeit des dritten Reichs und auch ein bißchen der Behauptung von afrikanischen Schriftstellern im weiß-europäischem Literaturbetrieb. Die Parallelen im geschichtlichen Ablauf und Iterationen vom fiktionalen zum realen Autor sind vielfältig und immer für eine Überraschung gut. Fast kann man an manchen Stellen das schelmische Augenzwinkern sehen, das, und da bin ich mir sicher, Sarr mit diebischer Freude seinen Lesern zuwirft.

Doch will der Text mit Konzentration gelesen werden, vielleicht sogar ein zweites Mal, damit auch alle Feinheiten dieses anspruchsvollen Romans ihre volle Blütenpracht entfalten können. Zeit und Ort werden mitten im Absatz gewechselt, ganze Themengebiete miteinander verwoben. Hut ab vor der sicherlich nicht immer einfachen Übersetzung aus dem Französichen. Holger Fock und Sabine Müller haben sich dieser Aufgabe gestellt und mit Bravour gemeistert.

Also, um das Nichts mal in die richtigen Worte zu fassen, dieses Buch ist kein Krimi (wie im Klappentext angedeutet), es ist alles und nichts! Es ist ein Vergnügen für Tüftler, es ist eine Herausforderung für den Geist und eine Offenbarung für Jeden, der schon immer mal wissen wollte, wie man mit zig unzuverlässigen Erzählern, verschwommenen Andeutungen und wechselnden Perspektiven doch nur die eine richtige Wahrheit erzählen kann.

So, und nun dürfen sich alle Kritiker in die Schusslinie stellen!