Rezension

Mumien, Mörder, Mummenschanz

Das Mädchen und der Totengräber -

Das Mädchen und der Totengräber
von Oliver Pötzsch

Bewertet mit 4 Sternen

Ein mumifizierter Ägyptologe, eine Mordserie an jungen Männern und ein menschenfressender Löwe. Wien an der Schwelle zum 20. Jahrhundert hat so einiges zu bieten und stellt nicht nur Inspektor Leopold von Herzfeldt in Oliver Pötzschs historischem Roman „Das Mädchen und der Totengräber“ vor große Herausforderungen.

Aber der Reihe nach: In den anrüchigen Vierteln der Donaumetropole geht offenbar ein Serienmörder um, der es auf junge Männer abgesehen hat. Julia, Leos Freundin und inzwischen zur Polizeifotografin aufgestiegen, ist erschüttert von der Grausamkeit, die sie an den jeweiligen Tatorten vorfindet, und überlegt sich ernsthaft, ob sie die psychische Belastung auf längere Sicht ertragen kann oder nicht doch lieber kündigen soll. Leo hingegen ermittelt in einem bizarren Todesfall, in dem ein renommierter Ägyptologe als mumifiziertes Mordopfer in einem Sarkophag aufgefunden wird. Und dann ist da noch der Tierpfleger, der von einem Löwen zerfleischt wurde, wobei in diesem Fall der Schuldige schnell ausgemacht werden kann. Er gehört zur Gruppe der Schwarzafrikaner, die sich ebendort dem Publikum in Völkerschauen präsentieren müssen und wie wilde Tiere begafft werden. Aber ist er wirklich für dessen Tod verantwortlich?

Es ist schon eine mehr als dekadente Gesellschaft, die sich hier präsentiert. Die Oberschicht feiert Mumienpartys, bei denen sich die Teilnehmer zum gemeinschaftlichen Gruppengruseln treffen. Zusammenkünfte, gespeist von der Erwartung, beim Entfernen der Binden antike Schmuckstücke zu finden, die dem Toten auf seiner Reise ins Jenseits mitgegeben wurden. Das einfache Volk hingegen sucht sein Vergnügen nicht nur in Tierschauen, sondern möchte aus sicherer Entfernung Blicke auf die „Wilden“ werfen, die man mit falschen Versprechen aus ihrer Heimat ins ferne Europa gelockt hat. Dort müssen sie unter unmenschlichen Bedingungen hausen, ihre Lebensumstände dem exotischer Tiere vergleichbar.

Wieder einmal ist es Oliver Pötzsch gelungen, die Atmosphäre in Wien Ende des 19. Jahrhunderts lebendig zu beschreiben und wiederauferstehen zu lassen. Dank seiner umfassenden Recherchearbeit bleibt er in den Beschreibungen eng an den historischen Tatsachen, nachprüfbar sowohl in dem ausführlichen Nachwort als auch auf diversen Webseiten, die sich mit den angesprochenen Themen, aber auch mit dem latenten Antisemitismus der österreichischen Gesellschaft beschäftigen. Allerdings waren mir manche Textpassagen zu detailverliebt, zu ausführlich und stellenweise auch einfach nur redundant. Außerdem weckt der Titel eindeutig falsche Erwartungen, denn dem titelgebenden Totengräber Augustin Rothmayer und dessen Ziehtochter wird nur am Rand Aufmerksamkeit geschenkt. Allerdings lassen die Zitate aus Rothmayers neuester Schrift über die „Totenkulte der Völker“ vermuten, dass deren Kenntnis bzw. der intensive Austausch mit dem Totengräber die Ermittlungen schneller zum Erfolg geführt und keine knapp 500 Seiten bis zur Auflösung gebraucht hätte.