Rezension

Mein erster Buchschatz 2014.

Vor uns die Nacht
von Bettina Belitz

Bewertet mit 2.5 Sternen

Manchmal lernt man einen fremden Menschen und gleichzeitig sich selbst kennen …

Ronias Leben ist alles andere als aufregend. Sie ist eine mustergültige Pastorentochter, die im Herzen ihrer Heimatstadt Heidelberg lebt. Die Eltern wachen streng über ihr einziges Kind und auch der Gemeinde entgeht nichts. Doch es gibt auch keinen Grund zur Klage. Ronias größte Rebellion stellt bisher die Wahl ihres Studiengangs dar. Anders als vom Vater erhofft studiert sie nicht Theologie, sondern hat sich mit Leib und Seele der Archäologie verschrieben. Ansonsten tut sie einfach das, was man von ihr erwartet. Doch Ronia hat einen Weg gefunden, dem Druck ihrer Eltern zu entgehen. Unter der Woche wohnt sie mit ihrem ältesten Freund Jonas in einer Art WG, doch auch hier hat sie kein einfaches Leben. Ihr bester Freund hat nicht nur ständig ein wachendes Auge auf sie, sondern ist zu allem Überfluss auch noch unglücklich in sie verliebt.

Bisher hat sie die Dinge einfach akzeptiert und ihr Leben hingenommen, doch als sie wieder einmal nach einer unglücklichen Beziehung verlassen wird, spürt sie den Drang, sich und ihr Leben zu verändern. Daher erinnert es fast an Schicksal, als sie genau in dieser Phase auf Jan trifft, der sie sofort in seinen mysteriösen Bann zieht. Ronia verfällt der Illusion, die sie sich von dem Unbekannten aufbaut. Da sich ihre Gedanken nur noch um ihn kreisen, lässt sie nichts unversucht, um ihn regelmäßig zu sehen. Die Grenzen, die sie sich setzt, bricht sie selbst immer wieder, ohne mit der Wimper zu zucken. Und irgendwann wird klar, dass Jan nur wenig mit dem Menschen gemeinsam hat, den Ronja in ihrer Phantasie zeichnet. Doch auch sie ist längst nicht mehr die Alte …

Fühlt er auch so wie ich? Oder war ich nur eine Nummer für ihn? Ist er sich dessen bewusst, was heute geschehen ist? Dass es das erste echte Mal für mich war – farbiger und friedvoller, als ich es mir je ausmalen konnte? Dass ich heute eigentlich erst begriffen habe, was Liebe ist – und gleichzeitig, dass ich an ihr scheitern werde, wenn ich es nicht schaffe, mich aus ihrem Sog zu retten? – Seite 244 –

„Vor uns die Nacht“ ist ein lesenswerter Roman, zumindest wenn man bereit ist, sich auf ihn einzulassen.

Wer bei dem Titel Vor uns die Nacht einen heiteren oder naiven Liebesroman für junge Erwachsene erwartet, wird sicherlich enttäuscht werden. Trotz oder gerade wegen der schnörkellosen Sprache regt Bettina Belitz ihre Leser zum Mitdenken an. Bei dieser Geschichte gibt es nicht wie so oft die Möglichkeit, die Handlung einfach zu konsumieren. Vielmehr wird man als Leser aufgefordert, sich aktiv mit den Protagonisten und insbesondere mit Ronia auseinanderzusetzen. Andernfalls läuft man schnell Gefahr, die Charaktere aufgrund der eigenen Lebensvorstellungen in eine Schublade zu stecken, die nicht unbedingt schmeichelhaft ist. Doch betrachtet man die sie reflektiert, erscheint Ronia zum Beispiel mit ihren inszenierten Treffen nicht mehr einfach obsessiv. Vielmehr wird in diesem Moment klar, dass sie sich in einer wichtigen Umbruchsphase in ihrem Leben befindet, bei dem die knisternde Beziehung zu Jan vielleicht auch ein Stück Mittel zum Zweck ist, um sich von der eigenen Umwelt zu distanzieren. Auch bei Jan wird auch den zweiten Blick deutlich, dass seine Unnahbarkeit und seine Unabhängigkeit nicht unbedingt selbst auferlegt sind. Ich mag an diesem Roman besonders gerne, dass er Ecken und Kanten besitzt, ganz wie das richtige Leben.

Und eben diese Ecken und Kanten besitzen wie bereits erwähnt auch die Charaktere. Sie sind nicht geschönt und bekommen durch Bettina Belitz’ Sprache eine ganz eigene Dynamik und Tiefe. Da die Geschichte aus Ronias Sicht erzählt wird, wird man als Leser zuerst mit ihr und ihren Schwächen konfrontiert und lernt mit ihr gemeinsam  Jan kennen. Daher bleibt man lange als Leser ebenso im Unklaren über sein wahres Wesen wie Ronia selbst. Seine Selbstsicherheit und das verruchte Image auf der einen Seite und seine Spiritualität auf der anderen Seite erscheinen Ronia wie zwei Variablen, die sich nur schwer zusammenfassen lassen. In diesen Momenten wird man unmittelbar Zeuge ihrer Unsicherheit, doch je mehr sie Jan näher kommt, desto mehr verändert sich ihr Wesen, wodurch sich auch lang gepflegte Beziehungsgeflechte wie zu Jonas oder ihren Eltern verändern.

Mein erster Buchschatz 2014.

Ich muss mich wirklich bremsen, an dieser Stelle nicht noch mehr zu diesem Roman zu schreiben, denn er gehört für mich definitiv bisher zu meinen Lieblingen in diesem Jahr. Obwohl Ronia im ersten Moment schräg erscheint, ist sie ein unheimlich liebenswerter Charakter, was man jedoch vielleicht erst auf den zweiten Blick so wahrnimmt. Jan konnte mich sofort einnehmen und trotz der anfänglichen Abneigung einigen anderen Charakteren gegenüber, macht dieser Roman auf packende Weise deutlich, dass die Dinge nicht einfach schwarz oder weiß sind und sich die Menschen nur selten in die Kategorie gut oder böse einteilen lassen.