Rezension

Mamablogs, Pädophilie und eine ‘begabte’ Ermittlerin

Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. (Die Emer-Murphy-Serie 1) -

Poppy. Dein Kind verschwindet. Und die ganze Welt sieht zu. (Die Emer-Murphy-Serie 1)
von Kristine Getz

* Thema: Kinder in den sozialen Medien *

Im Zentrum der Geschichte steht das Phänomen der Familienblogger bzw. der ‘Mamabloggerinnen’. Aus dem Alltag der Familie wird der Content für die sozialen Medien, Kamera oder Smartphone sind immer und überall dabei. Bedenklich ist das, wenn die Kinder zu kleinen Schauspieler:innen dressiert werden – auf mehr als nur einer Ebene. Echte kindliche Spontanität geht verloren, denn alles ist durchgestylt. Die Darstellung von Gefühlen wird zu inszenierten Szenen, so dass das Kind keine Gewissheit mehr hat, was echt ist und was nicht. Hat Mama mich wirklich lieb?

»Poppy« stellt diese Problematik sehr interessant und eindringlich dar, treibt sie auf die Spitze und bleibt dabei dennoch glaubhaft. Der Thriller konzentriert sich dabei auf zwei besonders brenzliche Aspekte: Pädophilie und parasoziale Beziehungen.

* Pädophilie *

Die niedlichen Kleinen sind oft die Goldesel der Blogs; sie sind der Grund, warum Tausende bis gar Millionen von Followern der Geschichte dieser Familien loyal folgen. Daher werden sie auch rund um die Uhr gezeigt, in jeglicher Situation, häufig sogar leicht bekleidet oder nackt, zum Beispiel beim Baden. Auf vorsichtige Warnungen reagieren die Eltern oft empört – »Mein Gott, es sind kleine Kinder, nur ein krankes Hirn könnte etwas Sexuelles darin sehen!«

Aber das ist ja genau das Problem. Im Internet gibt es keinen Mangel an kranken Hirnen, und für die sind solche Blogs ein verlässlicher Lieferant von Fotos und Videos.

* Parasoziale Beziehungen *

Was bedeutet das? Im Kontext der sozialen Medien versteht man unter einer parasozialen Beziehung eine verspürte innige Bindung zu den Ersteller:innen von Inhalten, obwohl es keinerlei persönlichen Kontakt gab. Menschen fühlen sich quasi als Mitglied der Familie, und das kann brenzlig werden, wenn sie glauben, das gäbe ihnen ein Mitbestimmungsrecht.

Ich will hier noch nichts Konkretes über die Handlung verraten, aber auch dieses Thema wird in »Poppy« sehr stimmig dargestellt – falsche Fährte oder echtes Motiv?

* Thema: Psychische Erkrankung *

Die Protagonistin, Kommissarin Emer Murphy, verbrachte nach einem Zusammenbruch ein paar Wochen in einer psychiatrischen Einrichtung, geht seither zur Therapie und nimmt Antipsychotika, die ihre Wahnvorstellungen eindämmen sollen.

Ich fühlte mich unangenehm berührt von der Art und Weise, wie in »Poppy« mit diesem Thema umgegangen wird: Die Antipsychotika werden immer wieder als die Ursache von Emers aktuellen Problemen dargestellt, nicht als dringend benötigtes Hilfsmittel. Sie sind der Grund, warum Emer nicht klar denken kann, sie sind der Grund, warum sie nicht arbeiten kann … Bei Antipsychotika sind die anfänglichen Nebenwirkungen oft wirklich nicht sehr erfreulich, aber hier werden sie übertrieben dargestellt.

Als Emer die Medikamente einfach absetzt, fühlt sie sich sofort viel besser.

Was sie für eine mentale Störung hielt, entpuppt sich als Begabung, die aus ihr eine exzellente Profilerin macht – und das vermittelt eine bedenkliche Botschaft. Psychische Erkrankungen sollten in der Literatur endlich normalisiert werden, aber das beinhaltet eine verantwortungsbewusste Darstellung der Therapie, inklusive der medikamentösen Aspekte.

Hier gleitet die Geschichte ab ins  Esoterische oder vielleicht sogar Übernatürliche, und das schmälerte für mich die Glaubwürdigkeit des ganzen Thrillers empfindlich.

* Charaktere *

Und damit kommen wir auch schon zu den Charakteren. Überwiegend finde ich die recht gut geschrieben – eine bunte Mischung diverser Menschen, die binnen weniger Sätze ausdrucksvolle Persönlichkeiten zeigen.

Anfangs war ich sehr angetan von Emer; sie war mir sympathisch, ich fühlte mit ihr. Aber die Glaubwürdigkeit krankte schnell an den kleinen Details, die Emer wirken lassen wie frisch aus einer Fanfiction entsprungen: Sie hat spitze Ohren, weiße Haare und lila Augen. Ach ja, und sie ist »überirdisch schön«.

Ihre Großmutter Marceline nennt sie daher »Elflein«. Die ist übrigens eine berühmte Fernsehwahrsagerin und überzeugt davon, dass auch Emer »die Gabe« geerbt hat – was zwar nie eindeutig bestätigt oder widerlegt wird, aber definitiv suggeriert. Marceline glaubt, dass die Medikamente Emers Gabe unterdrücken, und bedrängt ihre Enkelin das ganze Buch damit, sie müsse das »Gift« endlich absetzen. Damit wären wir dann wieder beim Thema von eben.

Viele der weiblichen Charaktere in diesem Buch sind schwach, gutgläubig, fehlgeleitet, oder selbstsüchtig. Aber der Schreibstil vermittelt den Eindruck, dass ‘schwach‘ der dominante Charakterzug ist.

* Schreibstil  *

Der Schreibstil liest sich im Grunde lockerflockig und angenehm; kurze Kapitel geben ein flottes Tempo vor. Der Stil krankt allerdings zum einen daran, dass Informationen, die für die Geschichte wichtig sind, oft etwas unbeholfen in den Dialogen versteckt werden, im Stil von »Wie du ja schon weißt, hat deine Tante gestern dies gesagt, was jenes bedeutet«. Zum anderen hat die Autorin anscheinend Lieblingsformulierungen, die sie immer und immer wieder vorwendet. Durchschnittlich alle 36 Seiten sinkt zum Beispiel eine Frau zu Boden, mit lediglich minimalen Abweichungen in der Beschreibung.

Entsprechende Zitate:
»…ließ sich zwischen Kücheninsel und Anrichte auf den Boden sinken …«
»…lehnte sich an die Wand, ehe sie nach unten auf den Boden rutschte …«
»…beugte Lotte sich über den Teller, ehe sie auf die Knie sackte …«
»…ließ sich vor dem Motorrad an der Wand zu Boden sinken…«
»Sie sackte zu Boden.«
»Vor dem Sofa ließ sie sich auf den Boden sinken…«
»…sank auf dem Boden zusammen…«
»Lotte sank zu Boden…«
»Sie war kurz davor, in sich zusammenzusinken…«
»…ließ sich auf die unterste Stufe der Treppe sinken…«
»…dachte sie und sackte wieder in den Sessel…«
»…was bei Guro auf den Fußboden gesackt…«

* Spannungsbogen *

Eigentlich ist der beschriebene Fall komplex und wirklich interessant konstruiert, daher flogen die Seiten trotz der bereits genannten Kritikpunkte nur so vorüber. Ja, das Buch liest sich durchaus unterhaltsam, gar keine Frage, und einige der unerwarteten Wendungen sind Thrillerkost vom Feinsten.

Aber der formelhafte Schreibstil und und das Schwanken zwischen »Psychose« und (übernatürlicher) »Gabe« waren mir ein ständiges Steinchen im Schuh, daher werde ich weitere Bände der Reihe wohl nicht lesen.

* Fazit *

Die zweijährige Poppy wird entführt, nachdem ihre Influencer-Eltern ein Foto im Internet gepostet haben, aus dem sich die Adresse des Aufenthaltsort der Kleinen schließen ließ. Abonnentinnen des Blogs brechen in dramatisch zur Schau gestelltes Mitgefühl aus, Ermittler fürchten einen pädophilen Hintergrund. Die Ermittlerin ist nach einem psychotischen Zusammenbruch eigentlich gerade krankgeschrieben, ermittelt aber trotzdem mit – denn ihre Großmutter, eine Fernsehwahrsagerin, hat geweissagt, dass nur sie das Mädchen finden kann.

Die angesprochenen Themen sind interessant und werden schlüssig dargestellt: Mamablogs, die Nutzung dieser Blogs durch Pädophile, parasoziale Beziehungen zwischen Influencer:innen und ihrer Gefolgschaft … Die psychische Erkrankung der Protagonistin wird meines Erachtens jedoch unsensibel und leicht problematisch dargestellt, und die esoterische Ebene macht einen Teil der Handlung für mich unglaubwürdig. Dazu kommt ein Schreibstil, der sich zwar über weite Strecken ansprechend liest, aber an zahlreichen schablonenhaften Wiederholungen leidet.

Fazit: Ein durchaus spannender Schmöker, jedoch mit Schwachstellen.