Rezension

Lektüre mit Nachhall

Zum Paradies
von Hanya Yanagihara

Bewertet mit 5 Sternen

Wie „Ein wenig Leben“ hinterlässt auch das neue Werk „Zum Paradies“ von Hanya Yanagihara tiefe Spuren. Während in ihrem beeindruckenden Debütroman ein Einzelschicksal den Leser auf emotionale Weise so fordert, dass er an seine Grenzen kommt, werden in diesem Werk eher die kognitiven Kompetenzen auf eine harte Probe gestellt, denn die Leserschaft muss selbst Zusammenhänge und Deutungshypothesen aufstellen, da nicht nur das Ende offen bleibt.

Angekündigt wird der Roman mit folgenden Sätzen: „Drei Jahrhunderte, drei Versionen des amerikanischen Experiments: In ihrem kühnen neuen Roman […] erzählt Hanya Yanagihara von Liebenden, von Familie, vom Verlust und den trügerischen Versprechen gesellschaftlicher Utopien.“  So offen diese Aussage erscheint, so lose hängen die drei Teile des Romans zusammen, die sich über drei Jahrhunderte erstrecken, von drei unterschiedlichen Menschen handeln, die scheinbar nichts miteinander gemein haben, außer ihren wiederkehrenden Namen, der Tatsache, dass sie in einem Haus am Washington Square in New York leben, und dass sie ihrem persönlichen Glück hinterherjagen.

Im ersten Teil entwirft die Autorin im Stil eines Gesellschaftsromans eine Version des Amerika von 1893, die nicht der historischen entspricht. Ein reicher junger Mann, David, verliebt sich in einen armen Musiklehrer dessen Absichten nicht integer zu sein scheinen. Er entscheidet sich daraufhin gegen eine „Vernunftsehe“ mit einem ehrlichen Mann, der eher die Vorstellungen seines gesellschaftlichen Standes erfüllt. Die Frage, ob er mit seiner scheinbar großen Liebe gemeinsam seinen Traum (ein Paradies) leben kann, bleibt offen.

Im zweiten Teil wird der Leser ins Jahr 1993 katapultiert, wo sich die Welt gerade vor Aids fürchtet. Erneut trifft er auf einen jungen, scheinbar amerikanischen Protagonisten, der diesmal sein Leben mit einem älteren teilt, dem er seine Kindheit und das Schicksal seines Vaters verschweigt. Durch einen sehr langen Brief des Vaters wird deutlich, dass dieser David hawaiianische Wurzeln hat, vor denen er flüchtete, um in Amerika sein Paradies zu suchen.

Wieder 100 Jahre später versucht Charlie, die Enkelin eines einflussreichen Wissenschaftlers, der im Zeitalter von Pandemien wichtige und unliebsame Entscheidungen treffen musste, ihr durch die Folgen eines Virusinfekts gezeichnetes Leben mit einem homosexuellen Ehemann zu bewältigen. Dabei werden durch Rückblenden größere Sprünge im 21. Jahrhundert gemacht. Dadurch wird die politische, gesellschaftliche und persönliche Entwicklung von Charlies Familie detailliert herausgearbeitet. Das New York des Jahres 2093 ist jedenfalls aufgrund von Epidemien und durch einen autoritären Kontrollstaat kein Ort, an dem es sich menschenwürdig leben lässt. Somit bricht auch am Ende Charlie auf, um ihr Paradies zu finden.

Stilistisch sind die drei Teile an den jeweiligen historischen Kontext passend angebunden und unterscheiden sich daher auch in ihrer Form und ihren Perspektiven.

Die Autorin schreibt so über gesellschaftliche Dysfunktionen (Klassengesellschaften, Rassismus etc.), Familienbande, Beziehungen (Liebe, Angst, Vertrauen, Unehrlichkeit, Verlust etc.) und über die Hoffnung auf „Besserung“. Dabei wird aber immer wieder auch deutlich, dass ihre vielschichtigen, oft auch zwiespältigen Protagonisten an gesellschaftlichen Utopien scheitern. 

Was braucht der Mensch um glücklich zu sein? Muss der Einzelne zum Wohl der Gesellschaft zurückstecken? Im Mittelpunkt des Werks stehen m.E. eben solche ethisch-philosophischen Fragen, die gerade in unserer realen Welt durch die Corona-Pandemie verstärkt wurden, sowie das typisch menschliche Handeln in einem Epidemie-Kontext. Deshalb reduziert Yanagihara diese Fragen nicht auf einen Protagonisten, sondern wählt Figuren, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten agieren. Die Wiederholung von Mustern, Typen und Namen zeigt auf, dass die Figuren im Prinzip beliebig sind und nur das allgemein Menschliche repräsentieren.

Der Leser muss sich mit den ethisch-philosophischen Fragen selbst auseinandersetzen und das Dargestellte "verdauen", denn der Text selbst gibt aufgrund der offenen Enden und dem Fehlen von offensichtlichen Zusammenhängen keine Antworten. Dazu braucht es Zeit, Kraft und Geduld. Daher ist dieses Werk eine noch größere Herausforderung für den Leser als der emotionale Debütroman. Mir hat das ausgesprochen gut gefallen. Literarisch zeugt der Text insgesamt von sehr hoher Qualität, auch wenn mir „Ein wenig Leben“ noch näher gegangen ist.