Rezension

Laut, heftig, fesselnd, wunderschön

Ministerium der Träume
von Hengameh Yaghoobifarah

Bewertet mit 5 Sternen

Nasrin führt ein Leben abseits der Norm: sie arbeitet als Türsteherin in einer queeren Bar, hält sich nicht an Strukturen oder gesellschaftliche Erwartungen. Als ihre Schwester Nushin überraschend stirbt, scheint Nas daher die unwahrscheinlichste Kandidatin dafür zu sein, die Vormundschaft für ihre pubertierende Nichte Parvin zu übernehmen – aber sie entschließt sich, es zu wagen.⁣

Doch sie will nicht akzeptieren, dass Nushins Tod wirklich nur ein Autounfall war. Nas glaubt an einen Selbstmord, denn Gründe gäbe es genug – und stößt noch dazu auf Dinge, die ihr die Schwester vorenthalten hat.⁣

Hengameh Yaghoobifarah erzählt ungemein packend und schonungslos. Die Worte hämmern manchmal geradezu auf dich ein, das musst du aushalten oder aufhören. Gegen das intensive Kopfkino konnte und wollte ich mich nicht wehren – auch wenn es wehtat, ich scharf die Luft einsog, in Wut oder Liebe oder Angst schier ertrank. Selbst auf der letzten Seite ließ mich die Sogwirkung der Geschichte noch lange nicht los.⁣

Nas ist eine Heldin, die keine Gefangenen macht; ihre Worte sind ehrlich, friss oder stirb. Sie ist queer und entschuldigt sich nicht dafür. Sie ist Migrantin und entschuldigt sich nicht dafür. Und warum, verdammt noch mal, sollte sie das auch?⁣

Es ist immer spürbar, dass Hengameh Yaghoobifarah aus eigener Erfahrung spricht. Als nichtbinäre Person gehört Yaghoobifarah zur LGBTQ+-Community, wie Protagonstin Nas, und hat ebenfalls familiäre Wurzeln im Iran. Beide haben Ausgrenzung der übelsten Art (über)erlebt, wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Sexualität.⁣

Hier werden Gewaltstrukturen aller Art aufgebrochen, die Matrix der alltäglichen Diskriminierung glasklar aufgezeigt. Yaghoobifarah stellt dich vor die Wahl: wer sich darauf einlässt, dem zeigt der Roman, wie tief das Kaninchenloch reicht.⁣

Da musst du dir auch gefallen lassen, dass Nas wenig Loyalität gegenüber der Mehrheitsgesellschaft verspürt, die sie verstoßen hat, und das Feuer auf ihre Art und Weise erwidert. “Wir leben doch in derselben Welt!” lässt sich nicht einfordern, solange es nicht für alle gilt. Der linke migrantische Widerstand ist eine Antwort auf rechte antimigrantische Gewalt.⁣

Immer wieder geht es um das Konzept Familie. Da ist zum einen die komplexe Beziehung von Nas und Nushin, mit all ihren Stolpersteinen und Geheimnissen: tief empfundene Liebe, aber auch viel Ungesagtes, Unverarbeitetes. Manchmal schwingt sogar leiser Hass mit in dieser Symphonie der Schwesternschaft, und doch sind sie sich gegenseitig Heimat.⁣

Nas’ Wahrnehmung der Welt und ihrer selbst ist bis auf die Knochen geprägt von familiärem Trauma – der Flucht aus dem Iran, dem Verlust des Vaters, der gefühlskalten und zugleich übergriffigen Mutter –, aber auch von schon als Jugendlicher erlebter Gewalt von außen. Diese spiegelt sich im Hier und Jetzt – da ist es nur folgerichtig, dass der Roman die dunkelsten Ecken der deutschen Gegenwart nicht ausspart.⁣

Rassistische Gewalt. Rechtsterrorismus. Hoyerswerda ist überall.⁣

Dann wiederum geht es um die Wahlfamilie, die dich tiefergehend akzeptiert als die Geburtsfamilie das will oder kann. Aber auch hier beschönigt Yaghoobifarah nicht die Probleme, die sich daraus ergeben können. Die Abschirmung nach außen. Die Filterblase. Die Erwartung, dass du dich in einer bestimmten Art und Weise verhältst. Nas ist queer – aber ist sie queer genug?⁣

Yaghoobifarahs Worte sind gnadenlos schön. Poetisch, dreist, brutal, poppig oder frech – sie sind immer so messerscharf ehrlich und zugleich berührend, dass du dich freiwillig daran schneidest. Bissiger queerer Slang verbindet sich mit dem Einfluss des persischen Erbes; das ist nicht nur lustvolle Provokation, sondern eine ganz andere Sprache, die sich wehrt gegen das Normative.⁣

Daher wird hier auch gegendert und damit bewiesen, dass eine gendergerechte Sprache gut lesbar sein kann.⁣

Einige Szenen beginnen mit einem vage beunruhigenden Unterton, der sich der Deutung noch entzieht. Dann driften sie mehr und mehr ab in Traumlogik, ins Surreale, in luzides Niemandsland… Schließlich realisierst du, dass du die wache Welt schon verlassen und das Ministerium der Träume betreten hat. Und doch spricht nie weniger aus diesen Szenen als Wahrheit.⁣

Wo beginnt und endet die Realität? Was war real, was hätte nur real sein können? Letztendlich muss di:er Leser:in damit leben, dass vieles offen bleibt.⁣

Fazit⁣

Türsteherin Nasrin wird nach dem Tod ihrer Schwester Nushin unverhofft zum Vormund ihrer pubertierenden Nichte Parvin. Angeblich war Nushins Tod ein Autounfall, aber Nas glaubt an einen Suizid und macht sich daher daran, mögliche Gründe zu rekonstruieren.⁣

Hengameh Yaghoobifarah erzählt das in einer Sprache, die in kompromissloser Wucht und roher Schönheit aufhorchen lässt. Das ist Kopfkino vom Allerfeinsten, das eine ungeheure Sogwirkung entwickelt – und das ist echte ownvoices Gegenwartsliteratur: hier schreibt eine nonbinäre migrantische Person über eine lesbische migrantische Protagonistin.⁣

Wer sich darauf einlässt, entdeckt eine Parallelgesellschaft, die die breite Mehrheit sich selber durch normative Ausgrenzung verschiedenster Art erschaffen hat. Yaghoobifarah prangert eine Vielzahl von Ismen an: Rassismus, Klassismus, Sexismus, Kapitalismus… Aber es geht auch immer wieder um Familie, die Heimat sein kann oder eine durch gemeinsames Trauma verbundene Zweckgemeinschaft.⁣

Letztendlich ist es eine Geschichte von unverbrüchlicher Liebe zwischen Schwestern, trotz allem.⁣

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-hengameh-yaghoobifarah-ministe...