Rezension

Krebs-Drama oder feministische Gaunerkomödie?

Wilde Freude
von Sorj Chalandon

Handlung:⠀

Die Pariser Buchhändlerin Jeanne hat Brustkrebs und gerät ob der Diagnose ins Straucheln. Ihr Mann – der Mensch, der sie vorbehaltlos unterstützen sollte! – lässt sie kläglich im Stich, weil er die Situation nicht erträgt. Er hat den Tod des gemeinsamen Sohnes noch nicht verkraftet, seine Mutter und Schwester sind an Krebs gestorben… Er macht dicht, er kann mit Jeannes Krankheit nicht umgehen, und sie verliert den Halt.⠀

Doch im Wartezimmer des Krankenhauses lernt sie Menschen kennen, die in der gleichen Situation sind. Dadurch macht sie die Bekanntschaft von Brigitte, Assia und Mélody, die sie aufnehmen und zu einer Art Familie für sie werden – auch sie wurden vom Leben gebeutelt, auf unterschiedliche Arten. Als eine von ihnen dringend eine große Summe Geld braucht, beschließen die Frauen, einen Juwelier zu überfallen, der Schmuck im Wert von mehreren Millionen lagert…⠀


Anfangs habe ich das Buch sehr positiv aufgenommen. Ich war zutiefst beeindruckt davon, wie authentisch und sensibel der Autor die existentiellen Ängste einer krebskranken Frau einfängt. Auch die hilflose Fassungslosigkeit der Umgebung schildert er sehr überzeugend: die Überforderung des Ehemanns, die Art und Weise, wie eine kranke Frau mit Glatze entweder angestarrt oder angestrengt ignoriert wird.⠀

Aber vor allem die Kameraderie, die zwischen Menschen herrschen kann, die einen ähnlichen gesundheitlichen Kampf kämpfen, gibt er so glasklar und authentisch wieder, dass ich mich als chronisch Kranke (nein, kein Krebs) beim Lesen ganz deutlich wiedererkannte.⠀

Es berührte mich, wie ungeschönt und doch hoffnungsvoll sich die Szenen im Krankenhaus lesen. Das ist einfach ein Stück Leben, dass der Autor in Worte gebannt hat. Denn ja, es kann wirklich so sein, wie er es beschreibt! Ich habe mir schon sehr freundschaftlich einen Raum, Sandwiches und Kaffee geteilt mit vier bis sechs anderen Personen, die auch alle neben mir am Tropf hingen. Man sitzt in einem Boot, das verbindet.⠀

Protagonistin Jeanne tat mir sehr leid. Die Situation ist schlimm genug: sie hat erst ihr Kind, dann ihre Gesundheit verloren, und der Ehemann, der für sie da sein sollte, verhält sich mehr als selbstsüchtig – er dreht Jeannes Verluste und Ängste um und macht sie zu seinen Verlusten und Ängsten. Ja, du hast Krebs, aber weißt du, wie schlimm das für mich ist? Er wird als Charakter sehr übertrieben geschildert: ich fand ihn furchtbar, er machte mich unglaublich wütend – aber da war ich auch zwiegespalten, denn Matt ist massiv traumatisiert und bräuchte wahrscheinlich selber Therapie.⠀

Jeanne will nur ein paar tröstende Worte hören und in den Arm genommen werden, aber Matts Vorbelastung ist zu gravierend, um selbst moderate Ansprüche zu erfüllen. So weit fand ich die Geschichte zwar sehr tragisch, aber immer noch durchaus glaubhaft.⠀

Doch so nach und nach schlichen sich beim Lesen Ernüchterung und Zweifel ein. In mir kamen Fragen auf wie: Sind die Charaktere nicht zu einseitig gezeichnet? Ist das denn wirklich nötig, dass die Schicksale der Frauen sich mit Drama förmlich überbieten? Die Glaubwürdigkeit geriet für mich deutlich ins Wanken.⠀

Denn es ist nicht allein Ehemann Matt, bei dem sich die Traumata häufen. Keine der Frauen, um die sich die Geschichte dreht, hat ‘nur’ Krebs, sondern eine Vielzahl von anderen Problemen wie aus einem Fernsehdrama. Alles wird angerissen, dann springt die Geschichte zum nächsten Thema – das ist einfach zu viel, da bleibt kein Raum mehr für Tiefgang. Dabei läuft das Buch genau dann zur Hochform auf, wenn es einfach ‘nur’ um das Leben mit einer Krebserkrankung geht!⠀

Was mich letztlich jedoch am meisten störte, war die mangelnde Charakterentwicklung. Die Charaktere wirken meiner Ansicht nach etwas klischeehaft und überzeichnet. Ich hatte das Gefühl, dass ihre emotionale Reifung desto mehr in den Hintergrund trat, je mehr Raum der actionreichere Teil der Handlung einnahm.⠀

Die Vorbereitungen auf dem Raubüberfall lesen sich unterhaltsam (wenn auch hemmungslos übertrieben), aber letztendlich führt das gemeinsame Abenteuer bei keinem Charakter zu echtem Wachstum – jedwede Entwicklung geht hopplahopp, zum Teil buchstäblich über Nacht. Die schüchterne, ängstliche Jeanne ist zum Beispiel auf einmal ganz tough – aber ich kaufte ihr das nicht ab, weil es meines Erachtens nicht glaubhaft beschrieben wurde. Ihre Charakterentwicklung versandet einfach.⠀

Die Männer sind (mit nur einer Ausnahme) selbstsüchtig oder gewalttätig oder kriminell oder in irgendeiner anderen Form eher unerfreulich. Das war mir persönlich zu einseitig.⠀

Das Ende konnte mich leider nicht überzeugen. Gerade weil ich mich am Anfang von diesem Buch so verstanden fühlte, war ich am Schluss umso bitterer enttäuscht. So viel verschenktes Potential… Ich hätte mir ein Ende gewünscht, an dem die Geschichte zurückkehrt zu ihren Stärken: dem einfühlsamen, realistischen Umgang mit der Krebserkrankung und derer psychischen Folgen.⠀

Doch gerade die Erkrankung und die Nebenwirkungen der Chemotherapie verlieren mehr und mehr an Realismus – man fragt sich, wie die Frauen manche Dinge körperlich überhaupt bewältigen können.⠀

Stattdessen kann das Ende sich nicht so recht entscheiden zwischen realistischem Drama bis in die bitterste Konsequenz und filmreifem Happy End. Das Verhalten der Charaktere ist in meinen Augen unerklärlich und beißt sich auch damit, wie sie bis zu diesem Punkt dargestellt wurden.⠀

Um diese Rezension mit etwas Positiverem zu beenden: der Schreibstil liest sich sehr flüssig und ausdrucksstark, mit angenehmem Sprachrhythmus und Tempo. Dieser Autor kann schreiben! Daher fand ich den Roman auch dann noch recht unterhaltsam, als er für mich inhaltlich nicht mehr stimmig war.⠀

Fazit:⠀

Jeanne wird nach ihrer Brustkrebs-Diagnose von ihrem Mann im Stich gelassen und findet Trost und Zuspruch bei ihren Leidensgenossinnen Brigitte, Assia und Mélody. Als eine von ihnen dringend Geld braucht, planen die Frauen einen hochriskanten Raubüberfall.⠀

Meiner Begeisterung über die einfühlsame Schilderung der Auswirkungen, die eine Krebserkrankung auf Psyche, Alltag und Beziehungen einer erkranken Person haben kann, wich nach und nach Ernüchterung. Die Charaktere erschienen mir zunehmend überzeichnet, gerade weil sich ein Drama nach dem anderen in ihren Hintergrundgeschichten auftat, und auch das Ende erschien mir nicht ganz überzeugend oder stimmig.⠀

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-sorj-chalandon-wilde-freude/