Rezension

Komplexes Zusammenspiel aus Magie, Politik, Wissenschaft und Geschlechtsidentität

Anarchie Déco -

Anarchie Déco
von J. C. Vogt

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Babylon Berlin mit Magie“ – wer könnte da schon widerstehen? Ich war unheimlich gespannt auf das Buch des Autorenduos Judith und Christian Vogt. Ich bin eine begeisterte Fantasy-Lerserin und mochte Babylon Berlin unheimlich gerne. Und dann klang der Klappentext – besonders die rätselhaften Phänomene - so verlockend, dass ich gleich meine Nase in das Buch stecken musste. 

Ich merkte jedoch gleich, dass ich das Buch vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Erwartet hatte ich einen spannungsgeladenen, schnellen Roman voller fantastischer Elemente im bewegten Berlin. Was ich nicht erwartet habe, war eine Bandbreite an Komplexität der Charaktere, eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Magie, Feminismus, Gendergerechtigkeit, politische Verstrickungen und ein authentisches Berlin der 1920er. 
Kurzum: Ich habe das Buch gnadenlos unterschätzt.

Die Atmosphäre hat mir unheimlich gut gefallen. Es fühlte sich wahrhaft an wie das Pulverfass, das Berlin zur damaligen Zeit gewesen sein muss. Während nachts ausgelassen gefeiert wurde, Hüllen fallen gelassen und Hemmschwellen überschritten wurden, drohte immer im Hintergrund die Ahnung einer dunklen Gefahr. 
Einer der Kernelemente des Buches ist die politische Lage der damaligen Zeit und die Verstrickungen der Charaktere mit und in der Politik. Mir persönlich hat es wahnsinnig gut gefallen, dass die Autoren sich eben nicht nur an dieser Umbruchsatmosphäre bedient haben, sondern auch die Schreckensseiten, die sich ankündigten, mit in ihrem Buch verarbeitet wurden. 
Ich interessiere mich persönlich sehr für Politik und fand die Verarbeitung und Verbindung mit der Magie sehr gelungen. 

Das Magiesystem an sich habe ich leider noch nicht vollständig greifen können. Mir ist es bei Fanatsy-Büchern sehr wichtig, dass das Magiesystem logisch aufgebaut ist und dass ich dieses auch verstehe. Ersteres ist definitiv der Fall. Ich habe es sehr genossen, mit welcher wissenschaftlichen Akribie die Autoren an die Magie herangegangen sind. Den zweiten Punkt kann ich leider nicht ganz bestätigen, da mir das System nach wie vor etwas zu vage gehalten ist, als dass ich es verstanden hätte. 

Normaler Weise lese ich in einem wirklich hohen Tempo, das war bei diesem Buch insofern nur in Grenzen möglich, da ich die Magie und Komplexität zu gut wie möglich verstehen wollte. Aus diesem Grund musste ich vor allem zu Beginn des Buches mein Lesetempo drastisch drosseln. Doch lag es nicht nur an der physikalischen Komponente, sondern auch an der gesellschaftlichen Note.
Neben Wissenschaft und Politik ist ein weiteres Kernelement des Buches die Gesellschaft und das eigene Selbstbild. Es geht um Feminismus, Sexismus, Geschlechteridentität und Akzeptanz. 
Jeder Charakter setzt sich auf die eigene Art und Weise mit diesen Themen auseinander, was mir sehr gut gefallen hat. 
Leider zieht sich dadurch ein klitzekleines bisschen die Handlung etwas in die Länge, aber ich finde es sehr wichtig, dass nicht nur heteronormative Charaktere vorkommen, die im Fantasy-Bereich einfach überrepräsentiert sind. Daher schweift die im Klappentext angedeutete Handlung zwar etwas ab, macht dabei jedoch Platz für ein unheimlich wichtiges Thema. Und das auf eine sehr natürliche und niemals aufdringliche Art und Weise. Ich habe das Gefühl, mit meinem Gestammel dem überhaupt nicht gerecht zu werden, deshalb hier in aller Kürze: Es hat mir unheimlich gut gefallen und ich finde es toll, dass im deutschsprachigen Raum endlich mehr Platz im Fantasybereich gemacht wird.  

Als Ur-Berlinerin haben mir in besonderem Maße die tollen Schilderungen Berlins gefallen. Ich freute mich nicht nur diebisch, wenn mir bekannte Orte auftauchten. Denn viele der Handlungsorte gehören zu meinem Leben dazu, wie zum Beispiel die HU oder der Ku’damm. Aber es gab so viele weitere schöne Anekdoten: Baden im Strandbadwannsee, Berliner Luft mit Mampe Halb & Halb, Gropius und andere namhafte Menschen. 
Doch selbst ich konnte so viel Neues noch lernen über die Stadt, in der ich lebe und großgeworden bin, wie zum Beispiel über das Eldorado oder den Sozialen Wohnungsbau unter Taut. 
Neben all den schönen Seiten hat Berlin natürlich noch eine weitere schreckliche, aber enorm wichtige Seite: die Zeit der Nationalsozialisten. Auch hier habe ich viel Neues lernen können oder habe bereits gelerntes bestätigt gesehen. Nicht nur einmal legte ich das Buch zur Seite, um mich mit bestimmten Personen auseinanderzusetzen. 

Wissenschaft, Politik, Geschlechteridentität, Magie und Kriminalfall. Dieses Buch möchte auf knapp 500 Seiten all dies miteinander verbinden. Und schafft es überraschender Weise sehr gut.