Rezension

Im Kampf gegen die Spanische Grippe

Die Stadt am Ende der Welt - Thomas Mullen

Die Stadt am Ende der Welt
von Thomas Mullen

Bewertet mit 5 Sternen

Charles und Rebecca Worthy gründeten Anfang des vorigen Jahrhunderts mit dem Sägewerk von Commonwealth im Pazifischen Nordwesten der USA ein tatsächlich alternatives Projekt. Bei Worthy erhielten die Arbeiter gerechte Löhne und bauten gemeinsam menschenwürdige Arbeiterhäuser. Worthys Konkurrenten hatten für ihn nur ein müdes Lächeln übrig; denn wie konnte ein Sägewerk Gewinn abwerfen, das nördlich von Seattle fern der Transportwege irgendwo im Wald lag und angemessene Löhne zahlte? In amerikanischen Kleinstädten war zur Zeit des Ersten Weltkriegs das Sägewerk die Lebensader des Ortes. Es war der Ort. Der Betrieb bot nahezu alle Arbeitsplätze, erzeugte alles Brenn- und Bauholz und ernährte durch den Konsum der Arbeiter weitere Berufe. Als die Leute von Commonwealth von der im nächsten Ort grassierenden Spanischen Grippe erfahren, beschließen sie, ihren Ort abzuriegeln und keinem Fremden den Zutritt zu erlauben. Quarantäne bedeutet für Commonwealth bald: keine Waren für den Laden, kein Verkauf und Transport des gesägten Holzes, nichts außer den Vorräten in den Häusern. Zusätzlich belastend ist die Ungewissheit über das Schicksal der jungen Männer, die gerade im Ersten Weltkrieg kämpfen. Im Mittelpunkt der Handlung um eine der bekanntesten Pandemien der Weltgeschichte stehen zwei junge Männer. Graham hat nach einem harten Leben mit Mitte 20 in Worthys Projekt Arbeit und privates Glück gefunden. Der 16-jährige Philip, der wie ein jüngerer Bruder zu Graham aufsieht, ist durch einen schweren Unfall in seiner Kindheit körperbehindert und wurde von Charles adoptiert.

Als die beiden jungen Männern an der Zufahrt zum Ort gemeinsam Wache schieben, stehen sie vor der Entscheidung, ob sie auf einen Menschen schießen würden, um ihr Leben und die Gesundheit der Bewohner zu schützen. Philip muss diese Entscheidung schon bald treffen – und prompt hat der Ort einen Fremden unterzubringen, der die tödliche Infektion nach Commonwealth bringen könnte. In zahlreichen Szenenwechseln erfährt man die Vorgeschichte der Personen, lernt Rebeccas Aktivitäten gegen den Krieg und für Frauenrechte kennen und folgt dem altersgebeugten Dr. Banes zu seinen Patienten. Banes hat sich auch im abgelegenen Pazifischen Nordwesten stets fortgebildet. Er weiß, dass die Spanische Grippe einen Menschen innerhalb von 24 Stunden töten kann und Ärzte wie pflegende Familienangehörige hochgefährdet sind. Und doch kann der Arzt nach Tagen der Quarantäne nicht jede Erkrankung zu einer Infektionsquelle zurückverfolgen. Dr. Banes Vorgehen fand ich hochinteressant, wie auch die Entwicklung einer Gemeinschaft in der Krise. Die Bewohner müssen zwischen dem Überleben der Stärkeren und Worthys sozialem Weg wählen, der theoretisch erfolgreicher sein könnte. In der Folge stellen sich zeitlose ethische Fragen zu sinnvollem contra moralisch korrektem Handeln, zu eigenen Grenzen in der Krise und wie man eigentlich Informationen von Gerüchten unterscheidet.

Für einen Debutroman finde ich Mullens Erstling außerordentlich klug konstruiert und genau recherchiert. Wer sich für die ungeschminkte Darstellung der Arbeitswelt und des Pionierdaseins an einem abgelegenen Ort interessiert, wird hier fündig. Mullen erzählt im Nachwort, dass er das Thema Spanische Grippe aufnahm, weil er sich nicht erklären konnte, wie die Pandemie aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden konnte. Vermutlich konnten Zeitzeugen die grauenhaften Erlebnisse nicht anders als durch Verdrängung ertragen. Mullen richtet sich mit dem erweiterten Nachwort der Neuauflage direkt an Leser während der aktuellen Pandemie. Im Erscheinungsjahr 2006 hätte ich „Die Stadt am Ende der Welt“ vermutlich allein mit der Frage im Hinterkopf gelesen, ob ein Projekt wie Commonwealth eine globale Krise erfolgreicher bewältigen kann als die übrige kapitalistische Welt – und ob die Hauptfiguren überleben werden. Im Jahr 2020 der Corona-Pandemie ergeben sich dazu - erschreckend vertraute - Momente, die mich zusammenzucken lassen, als z. B. im Ort die ersten Verschwörungstheorien die Runde machen und sich jemand damit rechtfertigt, er würde das Gesagte selbst nicht glauben, sondern nur erzählen, was geredet wird. Nach Mullens Roman sollte niemand mehr behaupten können, man hätte über Pandemien nichts gewusst ...