Rezension

Großartiger Roman von einem Meister

Crossroads
von Jonathan Franzen

Bewertet mit 5 Sternen

Wann ist CROSSROADS zu lesen? Im Advent? Ja, dann beginnen Sie auf Seite 9.Und noch weitere 817 Seiten warten auf Sie.

Der Roman, ein unbarmherziges Brennglas auf die Pfarrersfamilie Hildebrandt, die 1971 in New Prospect, einem fiktiven Vorort von Chicago lebt, erzählt in einem Dickicht aus Erinnerungen und Fantasien, grenzenlosem Fabulieren und wilden Lügen. So geht die Geschichte der Hildebrandts: Vater Russ, 47, ist der Pastor einer protestantischen Gemeinde namens „First Reformed" in der er von Rick Ambrose, einem nachrückenden, jüngeren Geistlichen zum Stellvertreter degradiert wird - auch, weil er angeblich ein junges Mädchen belästigt haben soll, was Russ dementiert.

Russ wünscht sich nichts so sehr, als endlich in die junge Witwe Frances Cottrell, 36 eindringen zu können. „Er erwog, sie noch einmal anzurufen, und sei es nur um seinen Vorrat an Scham wiederaufzufüllen, aber die Reinheit des Schmerzes, den ihr Verlust ihm bereitete, passt perfekt zu den dunklen Nachmittagen und den langen Nächten der Jahreszeit.“ (S. 24) – „Als er (Pastor Hildebrandt) kurz zu Becky aufschaute, verblasste sein Lächeln. Als er ihn wieder auf die Frau (Frances Cottrell) richtete, erwachte es zu neuem Leben.“ (S. 126). So geht es weiter: „Russ war ein Wrack am Steuer eines Wracks, aber er hatte Mrs. Cottrell, die vor ein paar Stunden mit gespreizten Beinen vor ihm saß und ihn an die Nase stupste." (S. 515). Britzelig, abwarten…
„Gebote waren zwar wichtig, die Stimme einem höheren Recht gleichkam“ (Russ). Naja, der Pastor ist eben nur ein Mensch, wenn auch ein Heuchler. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein…“ (Johannes Kap. 8,7).
Seine Ehefrau Marion, für ihren Mann und die Kinder längst unsichtbar geworden, veredelt Russ' Predigten, was niemand in New Prospect wissen darf. Die Hassliebe von Eheleuten, im Schweigen und Schönreden verbunden. Sohn Perry, 15, und Tochter Becky, 18, sowie Nachzügler Judson, 9 leben noch im Pfarrhaus; Clem, der älteste Sohn der Hildebrandts, schmeißt sein Studium hin und meldet sich zum Militär.

CROSSROADS? Eine kirchliche Jugendgruppe, typisch amerikanisch, rund 120 Mitglieder mit vollem Erlebnisprogramm. Und seinen vertrauensbildenden Übungen, dem ganzen Gerede über persönliches Wachstum und mit den heuchlerischen Umarmungszeremonien - „Es tut so verdammt gut“-, jeder liebt jeden, jeder sagt jedem die Wahrheit. Alle sind Engel? Nein, die Teufel werden erst später erkannt. Elvis Presleys „The devil in disguise“ könnte von Crossroads das musikalische Leitmotiv sein:
You look like an angel
Walk like an angel
Talk like an angel
But I got wise
You're the devil in disguise
Oh yes you are
The devil in disguise

Der Leiter, Rick Ambrose, ein Kerl mit strähnigem Haar und glitzernd schwarzem Fu-Man-Chu-Schnauzbart, den Russ aus tiefem Herzen hasst. Perry und Becky sind bei Crossroads.

Franzes orchestriert grandios und gnadenlos das Leben der Pastorenfamile Hildebrandt. Daß es eine Familie mit einem Priester als Oberhaupt sein muss ist nur die Spitze seiner zynischen Ironie. Der Großteil des Romans spielt im Advent, mit Höhepunkt zu Weihnachten und zu Ostern. Die Mitglieder der Familie sind derart mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Welt um sich herum kaum wahrnehmen. Alle, nicht alle wollen Gott gefallen und beten zu ihm, aber bessere Menschen werden sie nicht. Die Familie ist ein Scherbenhaufen. Es ist kein Hoch Lied auf die Familie, sondern er legt ihre strukturellen Probleme offen.

CROSSROADS ist der Auftakt zu einer geplanten, etwas großspurig betitelten Trilogie „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“.

Das genussvolles Lesevergnügen beinhaltet auch spirituelle Erfahrungen, denen man sich nicht entziehen kann. Für mich das Highlight des Jahres.

Die Fotografie auf dem Buchumschlag ist ein privates Foto von Franzen und ein Hinweis auf seine frühere Mitgliedschaft in der Jugendgruppe Fellowship.