Rezension

Grandioses Comeback des Meisters der Erzählkunst

Die Enkelin -

Die Enkelin
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 5 Sternen

Dass Bernhard Schlink ein begnadeter Schriftsteller ist, hat er unlängst bewiesen. In seinem neusten Werk „Die Enkelin“ setzt er sich wieder auf großartigste Weise mit der jüngeren deutschen Vergangenheit auseinander.

Zunächst entführt der Autor den Leser in das Leben des Buchhändlers Kasper, dessen Frau Birgit Alkoholikerin ist und die offenbar durch einen bewussten oder zumindest fahrlässig herbeigeführten Suizid stirbt. Auch in diesem Roman Schlinks steht also wieder eine starke Protagonistin voller Abgründe im Mittelpunkt. Offensichtlich trinkt sie, um sich zu betäuben, um die Vergangenheit zu vergessen. Ihr 70jähriger Mann hat sich damit abgefunden und flüchtet in literarische und musische Welten, obwohl oder weil er sie abgöttisch liebt. Trotz ihres manifesten Verfalls gelingt es ihm immer noch, die Frau, die er einst kennen und lieben gelernt hat, in der Alkoholikerin zu sehen. Dies ist gleichermaßen rührend und faszinierend. Dementsprechend wirft ihr plötzlicher Tod den sensiblen Mann aus der Bahn und er begibt sich auf Spurensuche, um zu verstehen, was Birgit gedacht und gefühlt hat, denn „Auf einmal hatte er Angst, Birgit könnte ihm bei aller Sehnsucht nach ihr, aller Trauer um sie entgleiten, wie Eurydike Orpheus auf dem Weg zurück ins Leben entglitten war. Obwohl Birgit tot war, war sie noch da, aber wenn er an sie zu glauben aufhörte und ihr zu grollen begann, würde sie noch mal sterben und tot bleiben.“ Er erfährt zufällig, dass sie u.a. Gedichte geschrieben hat und stößt auf bedrückende Notizen, die sich mit Birgits Heimat, der DDR, befassen. Dies lässt Kasper (und somit den Leser) in die Zeit abtauchen, als er Birgit kennen lernte und als er ihr zur Flucht aus der DDR verhalf. Gleichzeitig erfährt er aber auch, dass Birgit Geheimnisse vor ihm hatte, denn Birgit hatte ihre damals gerade heimlich geborene Tochter, von der er nichts wusste, in der DDR zurückgelassen. Im Rentenalter begann Birgit dann ein Buch über ihr Leben zu schreiben und wollte sich auf die Suche nach der verlorenen Tochter machen. Beide Vorhaben scheitern, weil sie stirbt. Kasper will Birgits Vorhaben vollenden und macht sich nun auf die Suche nach ihrer Tochter und wird in einer völkischen Familie nahe Görlitz fündig. Svenja ist inzwischen selbst Mutter und lebt zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter Sigrun in einer Parallelwelt. Die 14jährige Enkelin sieht in Kasper den Großvater, den sie sich immer gewünscht hat und bei dem sie fortan häufiger ihre Ferien verbringt. Trotz aller Unterschiede verstehen sich die beiden dank der verbindenden Funktion von Literatur und Musik recht gut und dennoch werden tiefe Gräben in den Weltanschauungen der beiden deutlich….

Gewohnt geschickt, ohne die moralische Keule zu schwingen, spiegelt Schlink am Beispiel einer Familie die deutsche Wiedervereinigung und zeigt auf, was auf beiden Seiten der ehemaligen Mauer und beim Zusammenwachsen schiefgelaufen ist. Dabei streift er neben der deutsch-deutschen Geschichte eine Vielzahl an Themen: Sozialismus, Rechtsradikalismus und völkischer Nationalismus, Liberalismus, Fakenews, unendliche Liebe, Ehrlichkeit und Verschwiegenheit sowie Verlust und Enttäuschungen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Dabei wird Kasper mit seiner liberalen Grundhaltung zum eigentlichen Helden der Geschichte und zeigt einen Weg auf, dem grenzenlosen Hass und dem rechten Gedankengut auf politischer Ebene zu begegnen und mit viel Respekt, Geduld und Liebe seinem Gegenüber zu behandeln, auch wenn die andere Meinung radikal ist.

Jeglicher Versuch, dieses brillante Werk angemessen zu rezensieren, ist ein aussichtsloses Unterfangen, da man der Tiefgründigkeit in wenigen Zeilen nicht gerecht werden kann. Mit diesem Roman beweist Schlink erneut, dass er zu den ganz großen Autoren unserer Zeit gehört, denn die detaillierte Beschreibung Kaspars täglicher Gewohnheiten und seiner Gefühle, zieht den Leser von Beginn an in den Bann. Glänzende Formulierungen lassen kaum Zeit zum Atmen. Das plötzliche Auftauchen von Birgits Manuskript baut enorme Spannung auf. Der Leser beginnt sich zunächst zu fragen, was der Protagonist noch alles über die Vergangenheit seiner Frau herausfinden wird und später dann, ob es ihm gelingen wird Zugang zu seiner Enkelin Sigrun zu finden und sie aus dem völkischen Sumpf zu „retten“. Und trotzdem wiegt man sich in Sicherheit, dass diese Liebe zwischen den Figuren etwas ganz Besonderes ist.

Dadurch ist es mit Abstand das beste Werk, das ich in den letzten Monaten gelesen habe! Ein Meisterwerk und mein persönliches Lesehighlight des Jahres 2021!

Kommentare

hobble kommentierte am 12. Oktober 2021 um 16:07

was fürs wunschregal