Rezension

Geraubte Geschichte

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
von Alena Schröder

Bewertet mit 4 Sternen

Wenn meine Großeltern von früher erzählten, dann waren das bei meinem Opa die abenteuerlichen Fahrten, die er nach dem Krieg und in der jungen demokratischen Republik mit Pferdewagen, Moped, Traktor und Omnibus beruflich unternahm. Meistens um irgendwas irgendwohin zu bringen, wo es ganz dringend gebraucht wurde oder umgekehrt. Meine Oma erzählte lieber von ihrer Kindheit und äußerte immer Bedauern, dass ihr Vater ihr nicht erlaubte, zur weiterführenden Schule zu gehen. Als Bauer hat er wenig Nutzen darin gesehen, bei seiner Tochter auf Bildung zu setzen, sie sollte lieber in der Wirtschaft daheim mit anpacken. Was für Menschen meine Großeltern vor meiner Geburt waren, geht aus ihren Geschichten nicht hervor. Da geht es mir ganz wie Hannah. Sie liebt ihre Großmutter, aber sie weiß nicht allzu viel von ihr und schon gar nichts über ihre Kindheit und Jugend. Um so größer die Verblüffung, dass Evelyn in einem Brief aus Israel plötzlich als Erbin eines geraubten und verschollenen Kunstvermögens genannt wird. Doch Evelyn verweigert sich ihrer Enkelin und will nicht darüber reden. Doch dieses Mal gibt Hannah nicht gleich bei und versucht dieser neuen Familiengeschichte auf den Grund zu gehen.

Alena Schröder vereint in ihrem Roman vier Frauenfiguren aus mehreren Generationen und umspannt damit ein ganzes Jahrhundert. Ihr Erzählton ist frisch, ihre Beobachtungen klar und präzise, und den im Moment in der Literatur omnipräsenten Perspektivwechsel beherrscht sie äußerst unterhaltsam. Mit ihren Themen bewegt sich Alena Schröder etwas abseits vom gesellschaftlichen Konsens. Sie schildert Frauenfiguren, die ihre Erfüllung nicht in der Mutterschaft finden, sondern nach einem selbstbestimmten Leben streben. Sie erzählt von Lebenskonzepten, die mal gut und mal weniger gut funktionieren. Sie umreißt in starken Bildern die Kraft der Liebe in ihrer zerstörerischen wie umarmenden Form. Alena Schröder ist ganz dicht dran an ihren Figuren und doch lässt sie sich nicht von ihnen vereinnahmen, sondern hält das Heft der Erzählung fest in der Hand. Das gibt dem Text eine ungewohnte Stärke und Dringlichkeit, die mich als Leser voll trifft und berührt. Die schweren historischen Themen des Nationalismus und der Judenverfolgung webt sie gekonnt in ihre Geschichte ein, ohne sich dabei in den historischen Details zu verlieren oder diese auszulassen. Sie bleibt bei ihren Figuren, personalisiert den Schrecken und macht ihn so umso deutlicher und greifbarer. Das behält sie auch im Zusammenhang mit der Provenienzforschung bei und bringt die Historie in unsere Gegenwart.

Schröders männliche Charaktere fristen allerdings ein Schattendasein. Zumindest können sie mit den weiblichen Protagonisten nicht mithalten. Sie erscheinen mir im Vergleich ein wenig zu überspitzt, bringen dadurch aber auch etwas Schwung in die Story, zumindest in Hannahs Gegenwart. Obwohl diese das wohl anders sehen würde.

Die Suche nach dem verschollenen Kunsterbe ist der Aufhänger für die Enthüllung einiger Familiengeheimnisse. Wobei hier der Leser gegenüber Hannah den Wissensvorsprung hält. Für Hannah bedeutet die Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte zudem die Chance, sich von ihrem Trauma zu befreien, welches der Tod der Mutter in ihr ausgelöst hat. Und für Evelyn ist es die Chance endlich loszulassen. Ein kluger, ehrlicher und einfühlsamer Roman, den ich nur zu gern weiterempfehle.

Kommentare

gst kommentierte am 02. März 2021 um 14:34

Eine sehr schöne, dem Buch gerecht werdende Rezension!