Rezension

Gemischte Gefühle

Herzfaden - Thomas Hettche

Herzfaden
von Thomas Hettche

Ein Mädchen besucht mit ihrem Vater eine Vorstellung der Augsburger Puppenkiste. So etwas Blödes - sie ist doch schon zwölf und kein kleines Kind mehr, und überhaupt ist sie sauer auf ihren Vater, der sich von der Mutter getrennt hat und bei dem sie nun jedes zweite Wochenende verbringen soll. Kurzentschlossen läuft sie weg und versteckt sich auf dem Dachboden. Da erscheinen auf einmal Prinzessin Li Si, ein alter Storch, das Urmel und viele weitere Marionetten aus der Puppenkiste - und eine Frau, die sich Hatü nennt.

Hatü ist Hannelore Oehmichen, die als Mädchen von Anfang an ihren Vater beim Aufbau der Puppenkiste unterstützt hat und sie jahrelang geleitet hat. Sie hat Marionetten geschnitzt, geführt und gesprochen. Und im zweiten Erzählstrang berichtet sie: Von ihrer Kindheit, als die Familie ihren Sommerurlaub plötzlich abbrach, weil der Vater in den Krieg ziehen musste; vom ersten "Puppenschrein", der bei einer Bombardierung Augsburgs abgebrannt ist; vom Neuaufbau und den ersten Erfolgen. Sie erzählt aber auch von der Angst um den Vater, von den Gedanken, was wohl mit der jüdischen Mitschülerin geschehen sein mag, von den ersten Begegnungen mit Jungen.

Zwei Erzählstränge: Die Vergangenheit in blau, die Gegenwart in rot. Die Vergangenheit wird realistisch berichtet, die Gegenwart bekommt surrealistische Züge, wenn die Marionetten lebendig werden und das Mädchen sozusagen selbst zur Marionette wird. Den Bericht aus der Vergangenheit fand ich sehr interessant: Auf die Kriegs- und Nachkriegszeit wird ein Licht geworfen. Manches bleibt dabei im Dunkeln: Ist Bernadette wirklich die Flucht nach Amerika gelungen? Was ist aus Frau Friedmann geworden? Wie haben sich die Eltern gegenüber den Nazis verhalten? Welche Folgen hat der Ehebruch, den Hatü beobachtet? Hier gibt es keine Auflösung. Natürlich muss das nicht immer sein, und zumindest eine Frage wird im anderen Strang aufgegriffen: Hatü bewegt die Frage nach ihrer Schuld. Diesen zweiten Strang empfand ich als eher konstruiert: Einerseits ist er sehr ansprechend, weil hier all die bekannten Figuren auftauchen, die ich in meiner Kindheit kennengelernt habe, und das hat mir sehr gefallen. Eine echte Rolle erhalten sie aber nicht. Für Hatüs Gedanken wäre dieser Strang auch nicht zwingend gewesen, und die Rolle des i-Phones hat sich mir nicht erschlossen. Daher:

Es war sehr schön, den mir ans Herz gewachsenen Figuren der Augsburger Puppenkiste wieder zu begegnen und es war sehr interessant, vom Leben der Hannelore Marschall-Oehmichen und von der Entstehung der Puppenkiste zu lesen. Aber die Konstruktion der beiden Erzählstränge und ihre Funktion haben mich nicht ganz überzeugt.

Nachtrag: Noch zu erwähnen sind die wunderschönen Zeichnungen von Matthias Beckmann, in denen Figuren der Augsburger Puppenkiste lebendig werden.

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2020.