Rezension

Gedächtnis verrutscht

Stay away from Gretchen -

Stay away from Gretchen
von Susanne Abel

Ein grandioser gut recherchierter Debütroman, der mich jede Sekunde fesseln konnte.

»›Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten‹, soll August Bebel gesagt haben. Ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht.« Auf diesen Spruch wartet die 84-jährige Greta jeden Abend vor dem Fernseher, zum Abschluss der Nachrichten, die Tom, ihr Junge, moderiert. Greta wohnt allein in einer Wohnung mit einhundertsechzig Quadratmetern. Ihr Mann ist schon seit 18 Jahren verstorben. Wann hatte sie ihren Sohn zum letzten Mal persönlich gesehen, er wohnt doch nur wenige Kilometer von ihr entfernt? Sie ruft ihn an, bemerkt dabei gar nicht, dass sie nur auf Band spricht.

Ich habe tatsächlich die Luft angehalten, als sich die alte Dame ins Auto setzt und nach Irrwegen auf der Autobahn landet, wo sie hilflos hinter ihrem Steuer sitzt. Vier Stunden ist sie unterwegs bevor sie mit leerem Tank liegenbleibt und aufgegriffen wird. Sie ist völlig verwirrt. Dringender Verdacht auf Demenz, sagt der Arzt im Krankenhaus zu Thomas

So startet die Geschichte in der Gegenwart. Doch es gibt auch noch Gretas Geschichte in der Vergangenheit und die beginnt mit dem 1. September 1939, als der Schuldirektor verkündet: "Jetzt ist Krieg!" und endet im Juli 1953. Und diese Geschichte ist über allen Maßen spannend, berührend, grausam, menschlich und unmenschlich zugleich.

Greta verbringt ihre Kindheit in Ostpreußen, als der Vater in den Krieg muss. Ihr wird als Kind die Nazi-Propaganda eingepflanzt und so verehrt sie, wie so viele, diesen Adolf Hitler. Dann gilt ihr Vater in Russland als verschollen und die Familie befindet sich auf der Flucht vor der anrückenden russischen Armee. Unvorstellbar, was Greta und ihrer Familie widerfahren ist. Auch als Flüchtlinge sind sie nirgend willkommen. Ich kann mich jetzt umso besser in die Flüchtlinge versetzen, die in der heutigen Zeit aus Kriegsgebieten nach Deutschland kommen. Auch sie sind von vielen hier nicht erwünscht und auch das faschistische Gedankengut ist bereits wieder in vielen Köpfen vorhanden.

In Heidelberg lernt sie die schwarzen GI Robert Cooper kennen. Hier lesen wir von Rassismus der Gis in den eigenen Reihen. Die schwarzen Soldaten dürfen zwar in den Krieg ziehen und ihr Vaterland verteidigen, sind jedoch weniger Wert als ein weißer Soldat. Ich möchte hier nicht zu viel von der Geschichte verraten. Mich haben gerade dieser Rassismus und die Mischlingsproblematik stark betroffen gemacht.

Von all dem hatte Thomas nichts gewusst. Seine Mutter hat nie davon gesprochen. Allmählich bekommt er eine Ahnung vom Leben seiner Mutter

Tja, und nun zum Hauptprotagonisten. Ich mochte Thomas anfangs überhaupt nicht. Er wurde mir zunehmend unsympathischer. Er ist ein typischer Vertreter der Generation „Ellbogen“, für die nur ein Höher/Größer/Weiter/Schneller zählt. Ich fand es seine arrogante Art, besonders seiner Ersatzassistentin Jenny gegenüber, abscheulich. Allerdings gewinnt er im Laufe der Geschichte, und je mehr er über seine Mutter erfährt, an Menschlichkeit. Gretchen mochte ich. Sie weiß, dass was nicht mit ihr stimmt und das macht ihr Angst. Sie versucht es zu vertuschen. Interessant ist, dass sie, trotz Demenz, noch in der Lage ist Kreuzworträtsel zu lösen. „Das Gedächtnis verrutscht im Alter“, sagt Greta. In ihren jungen Jahren hat Greta mehr aushalten müssen, als man sich vorstellen kann. Ich hielt beim Lesen oft die Luft an.

Der Schreibstil der Autorin ist gut lesbar und voller Dramatik. Susanne Abel lässt den Leser in eine andere Zeit eintauchen. Man fühlt sich mitten im Geschehen. Ich habe mitgelebt und gelitten. Die Charaktere sind lebensecht.

Fazit: Ein grandioser gut recherchierter Debütroman, der mich jede Sekunde fesseln konnte.