Rezension

Fast ein Kriminalfall

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert - Joël Dicker

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
von Joël Dicker

Bewertet mit 4.5 Sternen

Marcus Goldmann wurde nach seinem ersten großen Erfolg von der Schriftstellerkrankheit heimgesucht: Er hat keine neuen Ideen für weitere Romane mehr. Dabei sitzen ihm sein Verleger und sein Agent im Nacken; schließlich hat er einen Vertrag zu erfüllen. Und die Zeit dafür wird allmählich knapp. Während er so tut, als würde er fleißig arbeiten, quält ihn eine schreckliche Schreibblockade. In höchster Not flieht er zu seinem väterlichen Freund, dem berühmten Schriftsteller Harry Quebert. Als ehemaliger Professor hat der ihn nicht nur das Schreiben gelehrt, sondern ihm auch immer wieder Mut gemacht.

Ausgerechnet bei diesem Harry Quebert wird im Garten die Leiche eines jungen Mädchens gefunden, das vor 33 Jahren verschwunden ist. Nun hat Marcus Goldman genügend Ausreden, warum er nicht schreiben kann: Da er von der Unschuld seines ehemaligen Literaturprofessors überzeugt ist, muss er nach der Wahrheit suchen. Glücklicher Weise fällt ganz nebenbei genügend Stoff für einen neuen Roman ab …

Aufgebaut ist das Buch wie ein Countdown: Die Kapitel zählen von 31 rückwärts und beginnen jeweils mit einem guten Ratschlag bezüglich des Schreibens. Zum Beispiel „Das erste Kapitel ist entscheidend. Gefällt es den Lesern nicht, werden sie Ihr Buch nicht weiterlesen.“ Der Autor dieses Werkes, Joel Dicker, hat die Ratschläge alle befolgt und damit einen überdurchschnittlich gut lesbaren Roman geschrieben. Er beginnt ganz gemächlich und steigert sich auf den 700 Seiten immer mehr.

„Schreiben heißt, empfindsamer zu sein als andere und den Menschen diese Gefühle dann weiterzuvermitteln. Schreiben heißt den Lesern etwas vor Augen zu führen, was sie sonst vielleicht nicht sehen könnten“. Diesem Ratschlag folgend präsentiert uns der Autor immer wieder neue Wendungen in der Auflösung dieses Mordfalls. Kaum glaubt man, der Lösung nahe zu sein, zeigt sich, dass alles ganz anders war. Das verwirrt, bringt aber auch Spannung in den Roman, der zwar kriminalistische Elemente enthält, aber kein Krimi im herkömmlichen Sinn ist. Ich würde das Buch als genreübergreifend bezeichnen – es ist Sachbuch oder Lehrbuch für diejenigen, die selbst gerne schreiben würden; ein Roman über Freundschaft und Liebe, aber auch über Verrat und Schuld und natürlich über die Aufklärung eines mysteriösen Mordfalles. Durch reale Einschübe (der amerikanischen Präsidentenwahl 2008 und der Danksagung am Ende des Buches) ließ ich mich so an der Nase herumführen, dass ich nach der Lektüre im Internet zu recherchieren begann, ob die Geschichte eventuell auf wahren Vorkommnissen beruht ...

Der 1985 in Genf geborene Sohn einer Buchhändlerin und eines Französischlehrers Joël Dicker hat mit seinem zweiten Buch einen großen Coup gelandet: In Frankreich stand der preisgekrönte Roman über Monate hinweg auf Platz 1 der Bestsellerliste und wurde nach dem Verkauf der Rechte in 45 Ländern veröffentlicht – was mich nach dem Lesen nicht verwundert.