Rezension

Fantasie oder Realität? Wer weiß?

Die Nacht gehört dem Drachen - Alexia Casale

Die Nacht gehört dem Drachen
von Alexia Casale

Pro:
Das Cover ist schlicht: ein geschnitzter chinesischer Drache in einem Glasfläschchen. Wer sich als interessierter Leser das Bild betrachtet, bekommt noch keinen Hinweis darauf, ob es sich hier um Fantasy handelt oder um ein realistisches Jugendbuch. Und erstaunlicherweise könnte ich auch jetzt, nachdem ich den Roman gelesen habe, nicht mit Bestimmtheit sagen: "Es ist Fantasy!", oder: "Es ist ein realistisches Jugendbuch!"

Wer den Film "Pans Labyrinth" gesehen hat, kann sich vielleicht vorstellen, was ich meine, wenn ich sage: es liegt einzig und allein am Leser, für sich zu entscheiden, ob Evie sich den Drachen nur einbildet, um der harten Realität zu entfliehen, oder ob er tatsächlich echt ist, die Erfüllung ihres innigsten Herzenswunsches. Beide Betrachtungsweisen sind meiner Meinung nach möglich und es gibt nicht die eine wahre Deutung!

Der Klappentext lässt schon erahnen, dass es hier um Kindesmissbrauch geht - Evie hat in ihrer Kindheit Schlimmes erdulden müssen und lernt auch jetzt, wo sie schon seit Jahren bei liebenden Aoptiveltern lebt, nur langsam, wieder zu vertrauen und sich dem Leben zu öffnen. Der Drache, ob er nun echt ist oder nicht, hilft ihr dabei und steht ihr mit Rat und Tat zur Seite. Nacht für Nacht schleicht sich Evie mit ihm aus dem Haus, um dem Wind zu lauschen, im Mondschein die Natur zu betrachten oder auch einfach nur frei zu atmen und zu heilen. Die Art und Weise, wie dieses schwierige Thema hier angegangen wird, fand ich sehr originell und bewegend.

Ich war sehr schnell drin in der Geschichte und wollte wissen, wie es weitergeht - von Mitternacht bis 2 Uhr früh wiederholte sich in meinem Kopf der Gedanke: "Nur noch ein Kapitel!" Evie ist ein Hauptcharakter, dem man sich schwer entziehen kann. Sie ist unglaublich tapfer und dabei auch unglaublich verletzlich, und man möchte als Leser einfach wissen, ob sich für sie alles zum Besten wendet oder nicht. Ihre Pflegeeltern sind wunderbare, sympathische Menschen, und auch ihr Onkel Ben ist ein Charakter, den man meiner Meinung nach nur lieben kann. Erstaunlicherweise erfährt man fast nichts über die Großeltern, die Evie so sehr verletzt haben - nichts über das warum und weshalb. Man sieht nur die Auswirkungen ihrer Handlungen auf Evies Leben... Und das reicht, erstaunlicherweise. Ich hatte nie das Gefühl, dass das Buch mir nicht genug verrät.

Der Schreibstil ist fantastisch und immer der Situation angemessen. In den Drachennächten poetisch, malerisch und märchenhaft... Bitter und traurig, wenn Evie sich gegen ihr Schicksal auflehnt. Und z.B. in einer Szene, in der Evie in Gefahr gerät, abgehackt und panisch und fragmentiert.

Kontra:
Das Ende hat mich etwas verstört. Mein Eindruck ist einfach, dass dieses Ende der Botschaft des Buches entgegenläuft. Mehr kann ich nicht darüber sagen, ohne zu viel zu verraten! Ich denke, viele Leser werden das Ende wahrscheinlich sogar sehr befriedigend finden, und es ist jetzt auch nicht so, als würde ich behaupten, das Ende wäre schlecht... Nur, dass ich persönlich meine Probleme damit hatte.

Zusammenfassung:
Ein großartiger Roman, in dem das schwierige Thema Kindesmissbrauch fantasievoll, originell und sensibel behandelt wird.