Rezension

Familie kann man sich nicht aussuchen ...

Schweig! -

Schweig!
von Judith Merchant

Bewertet mit 4 Sternen

23.12., ein Tag vor Heilig Abend.
Obwohl Esther und Sue keinen sehr engen Kontakt haben, möchte Esther ihre „kleine Schwester“ an diesem Tag kurz besuchen um ihr ein Weihnachtsgeschenk zu bringen.

Esther lebt gemeinsam mit ihrem Mann Martin und ihren Kindern Ella und Jonas in der Stadt. Sue wohnt, nach der Scheidung von ihrem Mann Robert, alleine in einem 10-Zimmer-Haus mitten im Wald und nach dem Desaster vom letzten Weihnachtsfest, möchte Esther sich einfach nur davon überzeugen, dass es ihrer Schwester auch wirklich gut geht. Da sie anderenfalls sicherlich keine ruhige Minute haben würde, nimmt sie – obwohl sie selbst noch jede Menge Vorbereitungen zu erledigen hat – die Fahrt von etwas mehr als 1 Stunde auf sich.

Das Zusammentreffen verläuft gänzlich anders als erwartet und trotzdem ergibt es sich, dass die beiden Schwestern sich für einen kurzen Moment nahe kommen, sich gemeinsam an den Tisch setzen, woraus dann ein Gespräch resultiert, bei dem offen alle Karten auf den Tisch gelegt werden.

Am Ende des Tages ist eine Person tot ……..

„Ich bin kein freier Mensch, ich habe eine Schwester“
(Track 1)

„Schweig!“ ist eine Geschichte, die aus der Sicht von 3 Personen erzählt wird. Da sind zum einen die Schwestern Esther und Sue, die die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählen, als auch Esthers Ehemann Martin, der seine Sicht der Dinge in der 3. Person erzählt.

Esther glaubt tatsächlich, dass ihre „kleine Schwester“ Sue ohne sie nicht lebensfähig ist. Seit beide ihr eigenes Leben leben und getrennt wohnen, kann Esther nicht mehr auf Sue aufpassen und deswegen – zumindest glaubt das Esther – hat diese ihre Ehe an die Wand gefahren, ihren Job verloren, ist psychisch labil, muss deswegen Tabletten nehmen und wohnt einsam in ihrem Haus im Wald. Esther möchte Sue nicht alleine lassen, sie kann sie aber auch schlecht zu sich nach Hause einladen – man denke nur daran, was letztes Jahr passiert ist, als sie alle zusammen Weihnachten bei Esther verbracht haben.

Was letztes Jahr passiert ist erfährt man aus den Rückblicken der beiden Schwestern, die jede aus ihrer Perspektive erzählen, wie es sich für sie angefühlt hat – das letzte Weihnachtsfest. Ebenso wie einige Geschehnisse aus der Kindheit aufgerollt und zerpflückt werden. Sehr schnell wird klar, dass Esther und Sue eine komplett andere Sicht der Dinge haben. Esther wollte Sue immer nur beschützen, Sue fühlte sich hingegen permanent kontrolliert, manipuliert, bevormundet von einer Schwester, die nur ihre eigene Wahrheit gelten lässt. Es springt einem schon richtiggehend ins Gesicht, dass zwischen den Beiden keine Geschwisterliebe sondern eine hoch toxische Beziehung herrscht. Sue möchte eigentlich nur, dass Esther schnell wieder geht und sie in Ruhe lässt, weswegen sie sehr wortkarg und geradezu unhöflich ist – Esther interpretiert das Verhalten ihrer Schwester als depressiv und glaubt, sie braucht gerade heute besonderen Schutz.

Es handelt sich nur um einen einzigen Tag, genauer, ein paar wenige Stunden, die in diesem (Hör-)Buch beleuchtet werden. Nach kurzer Zeit hat man sich ganz sicher auf die Seite einer der beiden Schwestern geschlagen. Und dann kommt der Punkt, an dem man nicht mehr weiß, ob man sich auf der richtigen Seite befindet, denn nun wendet sich das Blatt…… und wieder wendet es sich, als Martin sich in die Geschichte einklinkt. Auch Martin beleuchtet das letzte Weihnachtsfest, seine Schwägerin, seine Ehe, einfach alles, aus seiner Sicht. Zwischendurch gibt es noch Rückblenden von einem Kind – „Das Mädchen“ genannt – und irgendwann weiß man selbst nicht mehr, wer von den Beteiligten jetzt eigentlich gut“ und wer „böse“ ist.

Ich hoffe, dass mich niemals in meinem Leben jemand „Schnecke“ nennt. Das ist der Spitzname, mit dem Ester ihre Schwester anspricht und auch Esthers Kinder sagen „Tante Schnecke“ zu Sue.

Das Gespräch zwischen den beiden Schwestern ist das, was die Geschichte interessant macht. Auch wenn die gleichen Situationen aus 2 Perspektiven beschrieben werden, ist es krass, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind. Ich habe ganz oft gedacht, dass das Verhalten von Esther mehr als übergriffig ist.

Leider wird die Sache zäh und langatmig als auch Martin beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Nun erfährt der Leser/Hörer die gleichen Sachen noch einmal, aus der Sicht von Esthers Ehemann. Das war mir an einigen Stellen zu viel. Durch Martin hat man aber auch noch ein paar Details erfahren, die die Schwestern so nicht zur Sprache gebracht haben.

Der Schluss war anders als erwartet, aber es zeigt sich, dass Esther zu keiner Zeit und egal was passiert, niemals die Kontrolle aus der Hand gibt.

Auch wenn es stellenweise (für mein Empfinden) etwas zu langatmig war, war es doch unterhaltsam. Als Thriller würde ich es jedoch nicht bezeichnen, eher als Familien-Psycho-Drama. Die SprecherInnen Christiane Marx, Ulrike Kapfer und Tim Gössler haben die Geschichte einer hoch-toxischen Beziehung lebendig werden lassen.