Rezension

Episches Vabanquespiel.

Das Floß der Medusa
von Franzobel

Bewertet mit 5 Sternen

Die Unwissenheit ist ein Meer, das Wissen ein Floß darauf. - Isländisches Sprichwort.

"Vielleicht haben Sie ja Lust zu vergessen? Mutatis mutandis!" war das Angebot von Hugues Duroy de Chaumareys, einstiger Kapitän des Flaggschiffs Méduse, an den zweiten Schiffsarzt Jean Baptiste Henri Savigny. Er vergaß nicht und lieferte mit dem Geographen Alexandre Corréard der Nachwelt einen infernalischen Tatsachenbericht über die Zeit auf der Medusa, der Arguin-Sandbank und dem Floß.

Zusammen mit der Brigg Argus, dem Proviantschiff Loire und der Korvette Echo verließ die Fregatte Medusa am siebzehnten Juni 1816 den Hafen von Rochefort-sur-Mer, Südwestfrankreich. Die Französische Revolution sowie die Ära Napoleon Bonaparte waren vorrüber. Frankreich bekam 1814 im Ersten Pariser Frieden seine Kolonien zurück. Der westafrikanische Senegal zählte dazu. Das Fahrtziel war seine Hauptstadt Saint-Louis, wohin ein französischer Gouverneur, Julien-Désiré Schmaltz, entsandt wurde. Dieser konnte es kaum erwarten, sein Amt anzutreten, und befehligte dem Kapitän, der einem Degout seiner Offiziere wegen die Kooperation mit ihnen ablehnte, indirekt zur vollen Kraft voraus. Die Medusa strandete. Nach zwei kläglichen Befreiungsversuchen von der Arguin-Bank, wurde die Besatzung in einer gewissenlosen und vor allem egoistischen Aussonderung auf die Beiboote Amorosa und Cremona, die Schaluppe Bombarde, das Hafenboot Dolce, die Jolle Euphonia, die Pinasse Fugara - und das Floß verteilt. Das Grauen setzt sich in Bewegung.

Die furchtbar grässlichen und dennoch aufklärerisch edukativen Vorkommnisse bilden den Fokus in Franzobels Roman "Das Floß der Medusa". Der Leser begleitet das Schicksal von einhundertsiebenundvierzig Menschen. Ihr dreizehntägiges Verhängnis - die zusammengehämmerten Holzteile, das Meer und ... Ethos.

Franzobel vollbringt mit seiner detaillierten sorgfältig in recherchierten Quellen und oft zynisch hyperbolischen Sprachraffinesse ein Überlebenskampf des historisch schriftlich besiegelten Malheurs und hält es in einer panoptischen Perspektive (so wie einst Théodore Géricault mit seinem Kunstwerk) fest, in der sich Fakten und Fiktion abwechseln, ineinander übergehen, sich gar verflüssigen. Der Leser wird zum "Mitfließenden". Die aufscheinende Hoffnung am Horizont sind die phantastischen Metaphern und die ausgeklügelten Dialoge. Fortwährend streut er Bezüge zur Gegenwart ein, die teils auf humoristische Weise seine ruppigen Figuren charakterisieren. Gesellschaftliche Widersprüche werden im ständigen Wechsel der Standpunkte deutlich. Ein Bonbon sind die pointierten Überschriften.

Gewalt, Verzweiflung, Intriganz und Überlebenswille wurden bildgewaltig - neu- interpretiert. Sie treiben hemmungslos auf dem Meer der hudelwetterischen Wahrheit entgegen. Stoisch? Verzweifelt? Ein orgiastischer Sinnesrausch, während die Welt des Menschen zerbröselt. Bis zum Kern seiner Selbst.

Grausam und witzig zugleich - ist er, der Franzobel!

Kommentare

katzenminze kommentierte am 30. Oktober 2017 um 11:38

Haha, Malheur ist gut. ;) Gruß von der "Mitfließenden".

wandagreen kommentierte am 30. Oktober 2017 um 16:40

Sehr gute Rezension. Chapeau!