Rezension

Ein packender Thriller über eine toxische Beziehung

Schweig! -

Schweig!
von Judith Merchant

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt: Der Tag vor Heiligabend. Esther ist auf dem Weg zu ihrer Schwester Sue, die einsam in einer Villa im Wald lebt. Eigentlich will Esther diesen Besuch gar nicht machen. Weil, so Esthers Überzeugung, ihre Schwester nicht ganz normal ist. Aber es ist Weihnachten, und deshalb führt kein Weg an dem Besuch vorbei. Und als hätte Esthers es nicht schon geahnt, beginnt der Besuch wenig vielversprechend: Eine verwirrt dreinblickende Sue öffnet ihr die Tür – bewaffnet mit einem Küchenmesser…

Persönliche Meinung: „SCHWEIG!“ ist ein Psychothriller von Judith Merchant. Die Ausgangslage des Thrillers ist vergleichsweise simpel: Zwei Schwestern, die Probleme miteinander haben, treffen aufeinander, sodass sich ein schneidendes Gespräch zwischen den beiden entspinnt. Doch was Judith Merchant aus dieser an ein Kammerspiel erinnernden Ausgangslage macht, ist wirklich grandios. Über die Handlung (und das Gespräch) hinweg entfaltet sich eine hochgradig toxische Schwesternbeziehung, die von Manipulation, Missgunst und Übergriffigkeit geprägt ist. Das Gespräch der beiden wird wechselweise aus den Perspektiven der Schwestern erzählt, wobei ihre unterschiedlichen Gefühle schön deutlich werden. Interessant ist dabei, wie verschieden die Schwestern einzelne Dinge wahrnehmen. Was die eine Schwester als Fürsorge versteht, sieht die andere als übergriffigen Akt. Ein Besuch wird zu einer feindlichen Übernahme; ein zurückgezogenes, ruhiges Leben zu einem Anzeichen tiefster Depression. Dabei – und dadurch entsteht eine große Spannung – weiß man als Leser*in gar nicht so genau, welche Schwester im Recht steht (und welche im Unrecht). Dies hängt vor allem damit zusammen, dass eine übergeordnete, ordnende und damit zuverlässige Erzählinstanz bewusst weggelassen wird. Denn der Thriller wird aus den Ich-Perspektiven der beiden Schwestern erzählt (im Laufe der Handlung kommt noch eine dritte Perspektive hinzu, deren Identität ich aber nicht spoilern möchte) und beide sind – bewusst oder unbewusst – unzuverlässig. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Wahn verschwimmt dadurch: Man kann nicht wirklich festhalten, welche Schwester sie mit welcher Äußerung übertritt. Erst durch Rückblicke, die immer wieder in die Handlung eingestreut werden, offenbart sich, welche Schwester die zuverlässigere ist. Außerdem finden sich in diesen Rückblicken, die besonders die Kindheit und das Weihnachtsfest des vergangenen Jahres behandeln, immer wieder Mosaiksteinchen, die nach und nach ein vollständiges Bild der Schwesternbeziehung ergeben. Das Ende des Thrillers ist schlüssig und stimmig, insgesamt wirklichkeitsnaher als andere Thriller aber gerade dadurch auch erschreckender und nachhallender. Wie schon die früheren Krimis und Thriller von Judith Merchant besitzt auch „SCHWEIG!“ lebendige Dialoge, sodass es sich flüssig lesen lässt und zu einem Pageturner wird. Insgesamt ist „SCHWEIG!“ ein spannender, gut durchdachter Thriller über eine hochgradig toxische Beziehung mit zwei Erzählerinnen, die kaum unzuverlässiger sein könnten.