Rezension

Ein Feuerwerk an sprachlicher Brillanz und klugem Witz

Der Passagier
von Cormac Mccarthy

Bewertet mit 5 Sternen

Also gut, Cormac McCarthy schreibt nach sechzehn Jahren einen neuen Roman und ich war dabei. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, ich habe keine Ahnung, worum es eigentlich ging und bin mir auch nicht sicher, ob es überhaupt ein Roman ist. Eigentlich ist es eine hochphilosophische Elegie, ein melancholischer Abgesang auf das Leben generell, eine poetische Klageschrift, irgendwas zwischen einem Alptraum und Wahnvorstellungen, ein Buch wie ein Gruselfilm, in dem man sich in Episoden dem Kern des Grauens nähert.

Wenn man die Buchbeschreibung liest, denkt man, huch, hat McCarthy tatsächlich einen Thriller geschrieben? Da ist ein abgestürztes Flugzeug, das Taucher untersuchen, um festzustellen, dass ein Passagier fehlt, klar. Nur tut das eigentlich nichts zur Sache. Es geht um einen dieser Taucher, Bobby Western, der um seine Schwester trauert.

Die beiden hatten ein ganz besonderes Verhältnis, trotzdem wollte sie nicht leben, diese wundervolle Schwester. Sie war genial, viel zu klug, viel zu begabt, wunderschön und hatte mit einer ganzen Menagerie von Fantasiegestalten zu kämpfen, die immer auftauchten, wenn sie ihre Medikamente reduzierte. Ihr ständiger Begleiter war ein missgestalteter Zwerg. Die irrwitzigen Wortgefechte der beiden werden immer wieder eingestreut und erläutern ein wenig, wenn auch nicht viel. Dafür sind sie aber pure Poesie, total verrückte Philosophie, rotzfreche eloquente Betrachtungen zu ihrer Situation, lassen einen ehrfürchtig staunen und machen großen Spaß. Auf die Idee, sie z.B. „kleiner Pfirsichflaum“ zu nennen, muss man erst einmal kommen, grandios.

Ansonsten treibt Bobby durch dieses Buch, ist auf der Flucht oder einfach unterwegs, trauert immer und überall und trifft kluge Menschen, die kluge Vorträge zu unterschiedlichsten Themen halten. Es überleben nicht viele. Vielleicht sind diese Szenen nur alptraumhafte Variationen zum Thema Genie und Wahnsinn, vielleicht hat sich der Autor an dieser Stelle sechzehn Jahre lang seinen Frust von der Selle geschrieben. Auf jeden Fall gibt es oft lange Passagen, die bei aller Brillanz nichts zum Geschehen beitragen. Und am Ende ist man tatsächlich kaum klüger als am Anfang.

Das Hörbuch dauert 16 Std. und 22 Minuten, wobei man Christian Brückner, dem Sprecher, großen Respekt zollen muss. Er liest diesen anspruchsvollen Text ausdrucksvoll und engagiert. Seine Interpretation des dreisten, verrückten Zwergs ist preisverdächtig.

Dieses Buch ist natürlich genial, ein Feuerwerk an sprachlicher Brillanz und klugem Witz. Ich bin tief beeindruckt, aber auch ein wenig ratlos, was ich davon halten soll. Vielleicht bringt der zweite Teil des Werks Licht in das Ganze. Einstweilen bin ich froh, den ersten Teil durchstanden zu haben.