Rezension

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Die undurchschaubare Protagonistin

Alle meine Wünsche - Grégoire Delacourt

Alle meine Wünsche
von Grégoire Delacourt

Jocelyne Guerbette ist 47, verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und führt einen Kurzwarenladen sowie einen Blog übers Handarbeiten. Zwar entspricht nichts davon den großen Träumen, die sie einst hatte, dennoch kann sie sich einreden, glücklich zu sein. Dann jedoch gewinnt sie 18 Millionen Euro im Lotto und ihr geordnetes, ruhiges Leben gerät aus den Fugen, als sie den Scheck versteckt und ihr Mann damit durchbrennt, als er ihn findet…

Das Cover ist gut gelungen, die Garnrolle, Knopf und Nadel sowie Pailletten und Stoff passen ganz hervorragend zum Ausgangsschauplatz des Romans – dem Kurzwarenladen.

Bereits den Einstieg in die Geschichte finde ich jedoch erschreckend - es ist furchtbar, wie oft die Protagonistin vom Lügen spricht. Ständig betont sie, dass sie ihre Lügen glaubt und doch behauptet sie weiterhin, mit ihrem Mann glücklich zu sein, wie es ist, und deshalb den Lottogewinn verschweigen zu müssen. Daher ist man sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr sicher, was Jocelyne nun wirklich empfindet und was sie sich selbst mit einer Lüge als etwas Tolles verkauft.

Nur in den Szenen mit den Zwillingen aus dem Nachbarladen, ihren einzigen Freundinnen, kann man hier besser unterscheiden, da alle drei im selben Boot sitzen und die Zwillinge einfach offener ihre Wünsche, Pläne und Träume aussprechen, genau wie die traurige Realität.

Schön finde ich dagegen, wie sehr Jocelyne die Leute mit ihrem Blog berührt und finde es toll, dass ihr Laden damit wieder zu florieren beginnt. Genauso bewundernswert ist für mich die Tatsache, dass sie den Laden überhaupt erst übernommen hat, um ihren Vater in der Nähe pflegen zu können - und obwohl sie behauptet, damit ihre Träume fliegen gelassen zu haben, zeigt der Blog, wie wichtig ihr der Laden anscheinend doch ist und vielleicht sogar einen neuen Traum, eine ihr liebe Aufgabe, darstellt.

Generell scheint das Liebesleben mit ihrem Mann allerdings nicht ganz so zu laufen, wie sie es gerne hätte, weshalb einem seine plötzlichen Avancen doch tatsächlich relativ verdächtig erscheinen – umso trauriger ist es dann auch, dass Jocelyne selbst erst darauf kommt, als er mit dem Scheck bereits über alle Berge ist. Zwar war es wirklich schockierend, dass Jo den Scheck gestohlen hat - aber ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es gutheißen soll, dass Jocelyne ihn versteckt und verschwiegen hat. Sie wusste genau um die langjährigen Wünsche ihres Mannes, für deren Erfüllung dieser tagtäglich hart geschuftet und sich abgerackert hat, während ich das Gefühl hatte, die Arbeit in ihrem Laden sei nicht so besonders fordernd und da er zeitweise nicht so gut lief, könnte ich mir vorstellen, dass größtenteils ihr Mann das Geld nach Hause gebracht hat. Entsprechend könnte ich schon nachvollziehen, wenn er sich hintergangen fühlt, wenn er den Scheck findet.

Natürlich entschuldigt nichts seine Grausamkeit, als Jocelyne eine Totgeburt erlitt, doch wäre das nicht explizit beschrieben worden, wäre man vermutlich nie darauf gekommen, dass die beiden einen solchen Schicksalsschlag erlitten hätten und Jocelyne so schlecht behandelt worden wäre.

Trotz allem schienen sie ja immer noch oder wieder glücklich zu sein, soweit es in ihrer kleinen Welt eben möglich war.

Ich bin froh, dass Jo seine Taten am Ende bereut hat; es hat zwar seine Zeit gedauert, aber er hat begriffen, dass Geld allein nicht glücklich macht und ihm ist klargeworden, was er verloren hat - sein Ende ist wirklich krass, aber irgendwie auch beeindruckend, da es zeigt, wie stark er bereut und dass er sich so furchtbar fühlt, dass er einfach nur noch sterben will und sogar glücklich ist über seine Strafe.

Jocelynes Ende hat mich ebenfalls sehr traurig gemacht - wie die Psychologin bei der Gewinnabholung schon andeutete, hat jeder eine andere Art, mit einem solchen Gewinn umzugehen, und diese Art ist nicht immer unbedingt die richtige.

Dass Jocelyne ihre „guten Eigenschaften“, wie sie sie nennt, verliert ist wirklich traurig - ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch ohne Liebe leben kann. Allerdings fragt man sich als Leser doch wiederholt, ob sie vorher tatsächlich aus Liebe gehandelt hat und diese Eigenschaft überhaupt je besaß.

Trotz allem muss ich ehrlich sagen, dass ich nicht nur die Umstände bedauern und das Geld verfluchen kann - natürlich zeigt das Buch einem, dass man zum Glück nicht viel braucht und dass kein Geld der Welt die Liebe aufwiegen kann, das ist ganz klar – doch Jocelyne hat mehrfach die Gelegenheit verpasst, ihrem hart arbeitenden Mann das Vertrauen zu erweisen, ihm von dem Gewinn zu erzählen, bis er es bei einer Reparatur eben selbst herausgefunden hat. Hätte sie ihm dieses Vertrauen entgegengebracht, wie es in einer Beziehung eigentlich der Fall sein sollte, wäre er vermutlich auch niemals mit dem Geld durchgebrannt und anstatt den Scheck einfach zu verbrennen, wie sie es vorhatte, hätte Jocelyne zumindest anderen Leuten damit etwas Gutes tun können, selbst wenn sie selbst zu viel Angst vor den Veränderungen hatte, die das Geld in ihrem Leben hätte hervorrufen können. Als anonyme Spenderin hätte sie mit Sicherheit sozialen Einrichtungen oder Menschen in Not helfen können, ganz ohne dass der Scheck ihr eigenes Leben beeinflusst hätte - und gerade sie, deren Mutter so früh so tragisch gestorben ist und deren Vater sich in einer 6-Minuten-Schleife des Hier-und-Jetzt befindet, hätte eigentlich klar sein müssen, dass man solchen Menschen mit Pflegekräften und evtl. psychologischer Betreuung zur Seite stehen müsste, was leider nur durch Geld finanzierbar ist.

Alle meine Wünsche ist also ein sehr interessantes Buch, das, unter anderem durch seine unzuverlässige Erzählerin, zum Nachdenken anregt über die Bedeutung von Wünschen, Träumen und Glück und wie viel davon Geld eigentlich erfüllen oder kaputtmachen kann. Dennoch macht auch die Erzählerin Einiges kaputt mit ihrer Undurchschaubarkeit und ihrer Verstrickung im Selbstbelügen.