Rezension

Coming-of-Age in der amerikanischen Provinz oder die Flucht ins Private

Hard Land -

Hard Land
von Benedict Wells

Bewertet mit 4.5 Sternen

Für Sam Turner sollte der Sommer 1985 sein schönster und schrecklichster Sommer zugleich werden. Von einem schüchternen Mathe-Nerd hatte ich nicht unbedingt erwartet, dass er in schönen Momenten bereits an die mit großer Wahrscheinlichkeit folgende Krise denkt. „Er hat so eine Art, dass ich das Schlimmste befürchte“, trifft sein Freund Stevie die Sache auf den Punkt. Die gedrückte Atmosphäre zuhause jedoch wegen der Arbeitslosigkeit seines Vaters und der Krankheit seiner Mutter würde jeden deprimieren. Der Plan seiner Eltern, Sam zu Tante Eileen nach Kansas in die Ferien zu schicken, gibt einem Schwarzseher wie ihm den Rest. Als Mr Andretti für das Kleinstadt-Kino eine Aushilfe für die Sommermonate sucht, nimmt Sams besonderer Sommer eine unerwartete Wende. Er kann zuhause bleiben, seinem Vater aus dem Weg gehen und dabei noch Geld verdienen. Sam trifft nun regelmäßig Andrettis Tochter Kirstie, Cameron und „Hightower“ aka Brandon, den legendären schwarzen Football-Spieler des Ortes. Das Kino wird zum höchst privaten Club einer Clique von Außenseitern. Kirstie und Sam bilden darin wie Ying und Yang eine Einheit. Unter dem Druck provinzieller Rollenerwartungen auf alle drei Figuren empfinde ich Kirstie als die interessantere Figur, die sich bewusster mit dem Erwachsenwerden auseinandersetzt.

Als Icherzähler beschreibt Sam seine Schwächen (oder was andere für Schwächen halten) ruhig und ironisch – ein sympathischer Zug in Wells Coming-of-Age-Roman. In einem konservativ, religiös und rassistisch geprägten Umfeld muss Sam sich mit der schweren Erkrankung seiner Mutter, den wirtschaftlichen Folgen und Familiengeheimnissen befassen. Warum seine Schwester Jean schon vor Jahren den Kontakt zur Familie abgebrochen hat, ist angesichts des bevorstehenden Todes der Mutter nun zügig zu klären.

„Hard Land“ ist der Gedichtzyklus eines fiktiven William Morris, über den Sams Altersjahrgang einen Aufsatz schreibt. Dass nicht alle Schüler im „harten Land“ des Erwachsenwerdens Morris Werk verstehen, mag hier als weiteres Symbol für die amerikanische Provinz stehen.

Vor dem Hintergrund einer Kleinstadt in der Wirtschaftskrise blickt Benedict Wells in liebenswürdiger Weise auf Gefühlswirrwarr und Sprachlosigkeit seiner Figuren. Neben der immerwährenden Frage Heranwachsender: Bleiben oder Fortgehen? findet die Zwanghaftigkeit von Riten und Normen in der amerikanischen Provinz ausreichend Raum. Das Jahrzehnt, in dem Wells selbst gerade erst geboren war, skizziert er vorrangig mit Blick auf den amerikanischen Film. Gradys/Missouri wirkt bei Wells wie eine Insel, weitab von einem Staat, der sich als Weltpolizist begreift und 1991 in den Irak einmarschieren wird.