Rezension

Bemerkenswert, ergreifend, intensiv

Shuggie Bain -

Shuggie Bain
von Douglas Stuart

Bewertet mit 5 Sternen

Douglas Stuart versetzt den Leser mit seinem Debütroman “Shuggie Bain” ins Glasgow der 80er Jahre. Vor dem Hintergrund der Thatcher-Regierung entfaltet sich die Geschichte einer Arbeiterfamilie. Durch die Augen des Protagonisten Shuggie betreten wir das Zuhause von Agnes, ihrem Mann Shug und den zwei älteren Geschwistern von Shuggie. Agnes hat ihren ersten Mann verlassen, um sich ein neues Leben mit dem Frauenheld Shug aufzubauen, der sie regelmäßig betrügt. Als die Familie in eine Sozialsiedlung am äußersten Rande der Stadt zieht, verlässt Shug die Familie endgültig und Agnes verliert sich immer mehr in ihrer Alkoholsucht. Auch die ältere Schwester hat längst die Flucht ergriffen und so sind es nun nur noch Agnes, Shuggie und sein älterer Bruder Leek, die sich von Tag zu Tag und von Sozialhilfe zu Sozialhilfe kämpfen müssen. Sie wissen, “wie sich die scharfe Kante der Not anfühlte”. 

Stuarts Roman ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, doch sein Protagonist ist sicherlich der Hauptgrund, warum die Geschichte einen so bleibenden Eindruck hinterlässt. Shuggie ist mit seiner Sensibilität und Feinfühligkeit wie ein Fremdkörper in der von Tristesse, Gewalt und Männlichkeitsidealen geprägten Welt. Er ist anders, gehört nie richtig dazu und wirkt feminin auf sein Umfeld. In der Schule und in der Siedlung fällt das schnell auf und die anderen Kinder beginnen, sich über ihn lustig zu machen. Er wird als Schwuchtel beschimpft und sogar die Erwachsenen finden sein Verhalten merkwürdig.

Auch Shuggies starker Bezug zur Mutter ist außergewöhnlich. Er lernt, ihre Stimmung noch vor der Haustür zu erahnen und kümmert sich um sie, wenn sie selbst durch den Rausch nicht mehr dazu in der Lage ist. Der Rhythmus seiner Kindheit ist vom Alkoholkonsum der Mutter geprägt, vom ständigen Auf und Ab der Sucht. Es ist der Alkohol, der Shuggie seiner Kindheit beraubt. Er kann nie sorgenfrei sein, nie unbeschwert. Und obwohl es so offensichtlich scheint, dass die Mutter sich aus dem Teufelskreis, der durch den Alkohol entsteht, nicht wird befreien können, verliert Shuggie doch nie die Hoffnung. Er glaubt, dass sie sich bessern kann. Seine Liebe ist bedingungslos. 

Die Sucht der Mutter reißt die Familie in einen Abgrund nach dem anderen, aber trotzdem wird sie nicht dämonisiert, im Gegenteil. Denn auch sie ist in dieser Welt fehl am Platz. Sie hat Träume, die sie nicht realisieren kann, will ausbrechen aus diesem Leben, das sie in seinen Schranken gefangen hält und kommt nirgendwo an. Dennoch gibt sie nie auf. Sie zieht sich fein an, achtet auf ihr Äußeres, spricht nicht im Dialekt der Klasse und versucht, zumindest dann, wenn sie ihrer Selbst mächtig ist, ihr Haus sauber zu halten. Ihre Sucht muss man deshalb auch als das Ergebnis aus Enttäuschungen, Chancenlosigkeit, Unfreiheit und Armut verstehen. 

Dass zwei Außenseiter im Zentrum dieses Romans über die Arbeiterklasse Glasgows stehen, ist bemerkenswert. Agnes, Shuggie und im Übrigen auch Leek, der künstlerisch veranlagt ist, sich häufig zurückzieht und in seiner eigenen Welt zu leben scheint, stehen damit im Kontrast zu vielen männlichen Protagonisten, aus deren Perspektive die Arbeiterklasse und ihr Lebensalltag in der Literatur häufig beschrieben werden.

“Shuggie Bain” ist kein Buch, das man liest, zuklappt und nach ein paar Stunden oder einigen Tagen hinter sich lässt, um sich anderen Geschichten zuzuwenden. Denn “Shuggie Bain” ist ergreifend, ist bewegend und intensiv. Dem Roman gelingt es, den Leser tief in seine Welt mitzunehmen, ihn zu fesseln, ihn durch seine Kraft, seine Tragik und durch seine Warmherzigkeit zu überzeugen. Und obwohl es Themen wie Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Gewalt, Drogen, Alkoholismus, Verwahrlosung und gescheiterte Existenzen sind, die den Roman auszeichnen, so ist er auch ein Roman über Liebe, Mut und Hoffnung.

Er ist eine Coming-of-Age-Geschichte, eine Geschichte über das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, über das Aufwachsen als homosexueller Junge, ein Zeitporträt, eine Soziographie und die Geschichte einer Stadt. Denn Glasgow ist allgegenwärtig. Die Stadt tritt in Form ihrer stillgelegten Minen, ihrer geschlossenen Eisenwerke und Werften auf. Sie charakterisiert sich durch den Strukturwandel und die Gentrifizierung, die die Arbeiter immer weiter in die von Kohlenstaub und Sumpflandschaften geprägten Außenbezirke verdrängen. 

Dass “Shuggie Bain” Douglas Stuarts Debütroman ist, mag man kaum zu glauben. Zu Recht wurde er mit dem Booker Prize ausgezeichnet und zu Recht wurde er im englischsprachigen Raum im letzten Jahr bereits in den höchsten Tönen gelobt. Das Erscheinen dieses Romans auf Deutsch ist eine Bereicherung für den Buch-Spätsommer 2021 und für alle deutschen Leser. Dass der Roman nun auch in Deutsch erscheinen wird, ist nicht zuletzt durch die sehr gelungene Übersetzung von Sophie Zeitz möglich, die die schwierige Aufgabe, den Dialekt Glasgows zu übertragen, gemeistert hat. 

Es bleibt nur noch eins zu sagen: Es führt kein Weg an diesem Roman vorbei!