Rezension

Aufwühlender, nicht klischeefreier Familienroman

Der Gesang der Berge -

Der Gesang der Berge
von Nguyễn Phan Quế Mai

Bewertet mit 4 Sternen

Mit Großmutter Diêu Lan (*1920), und ihrer Enkelin Huong (*1960) hatten sich zwei Menschen getroffen, die ungeheuer bildhaft erzählen konnten. Die Großmutter arbeitet in den 70ern im nordvietnamesischen Hanoi als Lehrerin und hat in bescheidensten Verhältnissen Huong bei sich aufgenommen. Während beide hoffen, dass endlich das Schicksal von Huongs im Krieg vermissten Eltern aufgeklärt wird, erzählt die Großmutter, wie sie zur Zeit der gewaltsamen Bodenreform aus ihrem Heimatort flüchten musste und auf ihrem Weg notgedrungen einige ihrer 6 Kinder bei Fremden zurückließ. Indem zwei der Onkel zu Wort kommen und zum Ende des Romans Briefe auftauchen, wird Huong zur Sammlerin der Einzelschicksale und zur Sprecherin ihrer Familie. Der Krieg hat nicht nur die Großmutter von ihren Kindern und die Geschwister voneinander getrennt. Ähnlich unversöhnlich wie sich die Kriegsparteien im geteilten Vietnam gegenüberstanden, steht es in der Gegenwart auch zwischen den Geschwistern, die nicht verwinden können, dass der jüngste Sohn Lan bei der Mutter blieb und ihrer Ansicht ein leichteres Leben hatte als sie. Als es zum Wiedersehen mit Huongs Mutter Ngoc (*1940) kommt, bleibt das Verhältnis von Mutter und Tochter gespannt, weil die Mutter kaum über ihre Kriegserlebnisse sprechen kann, voller Schuldgefühle, sie hätte ihren Mann zum Kriegsdienst überredet. Der Konflikt der Kriegsparteien spaltet die Familie; denn Onkel Sang sagt sich offiziell von seiner Kapitalisten-Mutter los, die inzwischen als Händlerin ein gutes Auskommen gefunden hat.

Nguyễn Phan Quế Mais Icherzählerin stand Großmutter Diêu Lan sehr nahe. In der Gegenwart nimmt Huong durch ein Weihrauchopfer Kontakt mit der verstorbenen Großmutter auf und bekommt tatsächlich eine Antwort. Die Enkelin, in der unschwer die Autorin zu erkennen ist, wird zur Sprecherin einer durch den Vietnamkrieg jahrelang getrennten Familie. Diêu Lans bildhafte Erinnerungen nehmen die Leser direkt mit in das Dorf ihrer Kindheit und zu einer bildungshungrigen Familie, die ihre Ernte mit dem von Wasserbüffeln gezogenen Fuhrwerk zum Verkauf nach Hanoi bringt. Als japanische Soldaten das Dorf in Brand setzen, kennt Diêu Lan nur ihren kleinen Ausschnitt der Welt und versteht kaum, welcher Krieg auf dem Rücken der Bauern ausgetragen wird. Auch Huong, ihre Mutter und die Onkel können jeder nur ihr persönliches Erleben berichten, so dass der Krieg zwischen Ost und West m. A. nach vereinfachend als Schicksal dargestellt wird, das die Menschen aus heiterem Himmel trifft.

Mit einem jahrzehntelangen Krieg um ein geteiltes Land, zahlreichen Zeitsprüngen über eine Spanne von 90 Jahren hinweg und der Aneinanderreihung von Kriegsgräueln ist „Der Gesang der Berge“ ein aufwühlender, nicht klischeefreier Familienroman, dem etwas Bonusmaterial mit dem historischen Hintergrund gutgetan hätte.

 

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Der historische Hintergrund

Im Vietnamkrieg standen sich zwischen 1955 und 1975 Nordvietnam und auf südvietnamesischer Seite die NLF (Nationale Front für die Befreiung Südvietnams) gegenüber. Vorausgegangen war von 1946 bis 1954 ein Krieg zwischen der Kolonialmacht Frankreich und der Vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegung Viet Minh. Der Vietnamkrieg gilt als Stellvertreterkrieg der politischen Systeme in Ost und West. (nach Wikipedia)