Rezension

Aufwühlend und verstörend

Schweig! -

Schweig!
von Judith Merchant

Bewertet mit 5 Sternen

Es ist kurz vor Weihnachten, eine Zeit, in der Familien zusammengehören, findet Esther. Deshalb beschließt sie, ihre Schwester Sue, genannt Schnecke, zu besuchen, die seit ihrer Scheidung in einer abgeschiedenen Villa mitten im Wald wohnt. Esther befürchtet, dass Sue ganz alleine feiern wird und möchte sie am liebsten zu ihrer Familie in die Stadt mitnehmen. Zu diesem Zeitpunkt macht Esther den sympathischen Eindruck einer liebevollen Schwester. Im nächsten Kapitel kommt Sue zu Wort und die Dinge sehen plötzlich ganz anders aus. Sue ist weder depressiv noch einsam, im Gegenteil, sie ist glücklich, Weihnachten fernab aller Zwänge und Erwartungen allein zu verbringen. Daher ist sie alles andere als begeistert, als ihre ältere Schwester unangemeldet vor der Tür steht. Am liebsten wäre ihr, Esther würde sofort wieder verschwinden. Es wird klar, dass die Schwestern ein schwieriges Verhältnis zueinander haben und ihre Wahrnehmung der Dinge sich grundlegend unterscheidet. Als Leser ist man sehr verwirrt: Was stimmt denn nun? Ist Esther tatsächlich das manipulative Biest, das schon in der Kindheit seine kleine Schwester getriezt hat? Oder ist sie wirklich um „Schnecke“ besorgt? Ist Sue tatsächlich ein körperliches und psychisches Wrack oder im Einklang mit sich und ihrer Lebenssituation? Diese Diskrepanz, nie zu wissen, was stimmt und was nicht, macht einen großen Teil der Spannung aus und hat mich kolossal aufgewühlt. Die Kapitel werden abwechselnd aus der Sicht der beiden Schwestern geschildert, später kommt dann noch Martin, Esthers Mann, zu Wort, sowie ein nicht näher bezeichnetes Mädchen, das aus seiner Kindheit erzählt. Anhand von Martins Schilderungen wird klar, dass Esthers und seine Ehe keineswegs so harmonisch ist wie von Esther dargestellt.

Die Dinge zwischen Esther und Sue schaukeln sich am Tag vor Heiligabend mehr und mehr hoch, und als Leser ist man schockiert von den Abgründen, die sich auftun. Es ist klar, dass dieser Tag kein gutes Ende nehmen wird…

„Schweig“ hat die Bezeichnung Psychothriller wirklich verdient. Während des Lesens habe ich ein extremes Unbehagen verspürt und ich wollte so schnell wie möglich dieses Eintauchen in die Welt einer ganz und gar dysfunktionalen Familie hinter mir lassen. Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, das mich dermaßen aufgewühlt hat.